Nizza, Juni 2025. War das die Zeitenwende für einen neuen Nahen Osten? Auf den ersten Blick ja. Auf den zweiten ist vieles noch unklar – und was im Iran- und letztlich auch im Gaza-Krieg wirklich geschehen ist, werden die kommenden Entwicklungen und Geschichtsbücher zeigen. Israels Regierung schafft neue Fakten – auch solche, die der rechtsextremen Ideologie der Regierungsmitglieder entsprechen. Während die Gefahren aus Libanon, Syrien und Iran für den Moment weitgehend vom Tisch und durch militärische Stärke sowie die Geheimdienste gebannt sind, wird in der Frage der Palästinenser heftig an einer möglichen Vertreibung weitergearbeitet – und politische Lösungen werden zusehends marginalisiert.
Die amerikanische Vision eines Wirtschaftsraums Nahost mit den erweiterten Abraham-Abkommen 2.2 entscheidet sich in diesen Tagen – abhängig von der Frage, wie sich Saudi-Arabien als alleinige arabische Grossmacht der Stunde positionieren wird und welche Bedingungen es stellt, die US-Präsident Donald Trump im Moment dankend annehmen wird. Was in Nahost zum Teil gross gedacht ist, wird in Europa kleinkrämerisch zerpflückt. In der südfranzösischen Metropole leben und arbeiten die jüdische und die muslimische Gemeinschaft enger zusammen als sonst in vielen Städten Europas.
Während im Nahen Osten historische Veränderungen anstehen können, toben weltweit Kleinkriege um Symbole, Fahnen, Wörter. In Nizza etwa hat Laurent Hottiaux, Präfekt des südfranzösischen Départements Alpes-Maritimes, den Bürgermeister von Nizza, Christian Estrosi, offiziell aufgefordert, die israelische Flagge vom Rathaus der Stadt zu entfernen. Diese hängt dort seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 als Zeichen der Solidarität mit Israel. Estrosi erklärte, dass er sich einem solchen Vorgehen nicht beugen werde: «Ich werde keinen Präzedenzfall schaffen, der Nizza schwächt.»
In der Schweiz sind es innerjüdische Debatten um den Umgang mit dem Gaza-Krieg. Eine Unterschriftensammlung im Umfeld der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich, die die Haltung der Einheitsgemeinde der letzten Monate kritisiert, zeigt, wie gespalten Jüdinnen und Juden seit dem 7. Oktober sind und zu welchen Verhärtungen es inzwischen gekommen ist. In der Jüdischen Gemeinde Bern sorgt ein Offener Brief (vgl. S. 6) von Gemeinderabbiner Jehoschua Ahrens mit seiner Kritik an der Gaza-Demo von Bern für Lob und Skepsis.
In Tagen, in denen sich der Nahe Osten wandelt, wollen sich die Debatten um ihn nicht entschärfen. Der Keil zwischen vielen Juden und vielen Muslimen, teils zwischen Israelis und Juden, Jüdinnen und Juden, entzweit weiterhin. Während demagogische Apologeten mit viel «Besserunwisserei» Ideologien zementieren, wirkt der Konflikt weiterhin tief in die Gesellschaften hinein – in Zeiten, in denen Herzls Märchen vom jüdischen Staat vielleicht gerade ein neues Kapitel geschrieben bekommt.
Die weit entwickelte metaphorische orientalische Märchenwelt sieht sich mit neuen Realitäten konfrontiert, die nicht mehr Gewalt, sondern pragmatische Vernunft erfordern. Denn der Nahe Osten ist längst in einer neuen Realität angekommen, die nicht schöngeredet werden, aber als Chance für eine friedlichere Zukunft erkannt werden soll.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
27. Jun 2025
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Yves Kugelmann