Telegramm aus dem Krieg 18. Okt 2023

Tali Haddad – die Kindergärtnerin in Ofakim

Arik Gottlieb und Tali Haddad am 16. Oktober 2023.

Geschichten von Menschen im Krisengebiet in Israel, an der Front und aus der Zivilgesellschaft. Heute über die Kindergärtnerin Tali Haddad. In dieser neuen tachles-Kolumne porträtiert die Autorin Menschen im Krisengebiet.

Tali Haddad liebt die festlichen Morgen. Diese Kindergärtnerin liebt es, ihre Kinder um sich zu haben. Und nicht nur die Kinder anderer Leute. Drei ihrer sechs Kinder besuchten ihre Eltern im Dorf Ofakim am vergangenen Samstag, den 7. Oktober. Talis Ehemann ist Elektriker, aber er ist auch Vorbeter in einer der sephardischen Synagogen in Ofakim. Er hatte sich seit 5 Uhr morgens in der Synagoge eingefunden, um Simchat Thora zu feiern.
Der rote Alarm, der die Bewohner aufforderte, sich in die Schutzräume zu begeben, ertönte 10 Minuten lang, erinnerte sich Tali. Dann kamen die Tiefflüge der Hubschrauber und die ersten schrillen Schreie der Opfer. Itamar, der dritte Sohn von Tali, verstand als erster, dass dieser Angriff anders war als alle anderen, die die Familie Haddad in den letzten Jahren erdulden musste. Itamar, ein 23-jähriger Offizier, griff nach seiner Waffe, um Nachbarn und Freunden zu Hilfe zu eilen. Tali entschied sich, ihm zu folgen. «Ich habe mir noch die Zeit genommen, meine Sportschuhe zu binden», sagte sie lachend. Sie erzählt von ihrem Lauf durch das Zentrum der kleinen Stadt und zeichnet mit ihren Fingerspitzen auf dem Tisch die Runde nach, um die Positionen der Terroristen und ihre eigene zu zeigen. Sie zieht ihr Handy aus der Tasche und zeigt einen kurzen Film. «Schauen Sie, der in Shorts und weissem T-Shirt, das ist Itamar, mein Sohn, und vor ihm zwei Polizisten, die aus nächster Nähe erschossen wurden».
Der Film wurde vom Fenster des Gebäudes aus aufgenommen, das den Platz mit den Ofakim-Gärten überblickt. Tali ist noch nicht auf dem Platz angekommen, als ihr Telefon klingelt. Itamar ist verletzt. Tote liegen auf dem Boden und die ersten 22 Schwerverletzten werden gezählt. Tali kehrt um und rennt mit aller Kraft zu ihrem Auto. «Vielleicht habe ich mich in diesem Moment in einen General verwandelt, aber ich bin wirklich keine Marathonläuferin.» Ausser Atem ruft sie einen Nachbarn an und bittet ihn, mit seinem Auto zu ihr zu kommen. Sie flüstert ihm den Haustürcode zu, führt den Nachbarn zum Schlüsselkasten rechts hinter der Eingangstür und schon kommt er in Talis grauem Subaru an.
Die Geschichte von Talis Rettung der 17 Schwerverletzten aus Ofakim wird von Arik Gottlieb unterbrochen. Arik ist wie Tali in einem Hotel in Tel Aviv untergebracht, das an das Ichilov-Krankenhaus angrenzt und das Familien von Verletzten und Flüchtlingen aus dem Süden des Landes kostenlos aufnimmt. «Ich bin Arik Gottlieb, Rons Vater, ich möchte Sie begrüssen und Ihnen danken, Tali, dass Sie so viele Menschen gerettet haben.» Tali unterbricht ihre Geschichte, um nach Ariks verletztem Sohn Ron zu sehen. Dann erzählt sie bruchstückhaft, wie sie sich entschied, Schwerverletzte in ihr Auto zu laden und sie in ein nahegelegenes Krankenhaus zu bringen. Während Talis rasanter Fahrt ins Krankenhaus spricht und schreit niemand im Auto. In der Notaufnahme werden die Verletzten ausgeladen und Tali fährt zurück ins Stadtzentrum, um weitere Zivilisten aufzusammeln. Im Fahrstuhl des Ichilov-Krankenhauses kommen Passanten spontan vorbei, um sie zu begrüssen und ihr zu danken. Sie sagt ruhig: «Ich glaube, man tut solche Dinge, ohne wirklich darüber nachzudenken.» Es war Tali selbst, die ihren blutenden Sohn Itamar in das Krankenhaus brachte. Als er von der Notaufnahme übernommen wurde, flüsterte sie ihm zu: «Es ist alles in Ordnung, Itamar, ich hole die anderen, es ist alles in Ordnung». Als wir vor Itamars Zimmertür standen, sagte sie zu mir: «Wir umarmen Itamar und gehen die anderen besuchen, nicht wahr?»

Anna-Patricia Kahn ist Journalistin und Kuratorin für Fotografie. Von 1995 bis 2003 war sie Nahostkorrespondentin für das deutsche Nachrichtenmagazin Focus. In dieser Kolumne porträtiert Kahn Menschen im Krieg in Israel.

Anna-Patricia Kahn