Seit Kurzem bin ich pensioniert. Damit habe ich jetzt noch mehr Zeit, unter anderem für Reisen, meine Familie, ein Ehrenamt oder eine Tätigkeit als Tixi-Fahrer. Schauen wir uns diese Aktivitäten eine nach der anderen an: Für Reisen um des blossen Reisens willen habe ich nie viel übriggehabt. Erst recht nicht, als ich mir kürzlich das Interview mit der amerikanischen Philosophin Agnes Callard in der oft Leserreisen anbietenden «NZZ» zu Gemüte geführt habe. «An fremden Orten, deren Sprache und Kultur ich nicht verstehe, fühle ich mich oft entfremdet. Es ist, als wäre ich gar nicht wirklich dort. Ich fühle mich dann wie eine Ausserirdische, die beobachtet, aber nicht dazugehört», sagt Callard dort. Sie plädiert dafür, stattdessen in die Welt der Bücher einzutauchen, was zumindest ihre Sicht auf die Dinge nachhaltig zu verändern vermag.
Die Grösse meiner eigenen Familie stagniert seit 20 Jahren. Sie bedarf bis auf Weiteres keines zusätzlichen Betreuungsaufwands. So bleibt mir innerfamiliär nichts anderes übrig, als auf die stets wachsende Familie meiner beiden um einiges jüngeren Cousinen in Israel zu schauen. Einige ihrer Kinder haben sie schon längst zu x-fachen Grossmüttern gemacht. Daher weiss ich heute, dass x, die Unbekannte, auch eine äusserst variable Grösse sein kann.
Also dann vielleicht doch ein Ehrenamt in einem Verein? Als ausgesprochener Antivereinsmeier halte ich mich von Diskussionen über Statutenänderungen und Ordnungsanträgen fern. Alles, was mit Artikel 60 ff. des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs (ZGB) zusammenhängt, überlasse ich lieber anderen. Es bedarf einer ziemlich undifferenzierten Haltung, wenn man keinen Unterschied zwischen der Pflege exotischer Vögel und der Weiterführung kultureller Traditionen machen möchte. Möglich, dass dies auf einen leicht asozialen Charakterzug hinweist, zumindest aber auf fehlendes gesellschaftliches Engagement. Und daher ist es für alle besser, wenn ich als Vereinsmitglied von Generalversammlungen, Vorstandswahlen und Ehrenämtern absehe.
Bleibt also noch die Tätigkeit als Tixi-Fahrer. Immerhin hatte ich in meinem letzten Jahr als Teenager vor 46 Jahren-+ als Freiwilliger schon wertvolle Erfahrungen mit beeinträchtigten Menschen des damals neuen Beth-Chana-Wohnheims in Zürich gesammelt. Selbstredend auch als Chauffeur. Unterdessen habe ich die Freude am Fahren aber verloren.
Damit bleibt die Frage: Wie werde ich im Alter «Bitul Seman» vermeiden? «Bitul Seman» bedeutet «Zeitverschwendung», wörtlich «Ungültigmachen» oder «Annullation» der Zeit. In den Jeschiwot verwenden ihn die Männer oft dann, wenn sie ihre Zeit nicht konsequent für das Studium des Talmuds einsetzen. «Bitul Seman» hat mich auf eine jüdische Fährte gelenkt. Nicht die Frage «Mi Jehudi?» («Wer ist Jude?»), sondern «Wer bin ich?» treibt mich dieser Tage vermehrt um. Jüdische Identität in der Diaspora bedeutet in meinen Augen mehr, als einer israelitischen Gemeinde anzugehören, solidarisch oder kritisch mit Israel zu sein, ab und an einer jüdischen Institution einen Batzen Geld zukommen zu lassen und schliesslich auf einem «Bet Olam» («jüdischem Friedhof») die letzte Ruhe zu finden.
Wieso nicht eher als Angehöriger des Volkes des Buches wieder regelmässig das Buch der Bücher zur Hand nehmen? Genau das macht eine keineswegs religiös lebende jüdische Bekannte von mir. Tag für Tag liest sie allein für sich «Chumasch mit Raschi», aus den fünf Büchern Mose mit dem dazugehörenden Kommentar von Rabbi Schlomo Jizack oder «Raschi». Dieser ist der bekannteste und wohl bedeutendste Erklärer der gesamten hebräischen Bibel und des Talmuds. Er kam vor knapp eintausend Jahren im französischen Troyes zur Welt.
Das Studium von «Chumasch mit Raschi» ist sozusagen das Einmaleins der klassischen jüdischen Bildung und die Grundlage für die späteren Exegeten. Raschi und die weiteren Kommentare sind in aller Regel in einer eigenen Schrift angeordnet – der sogenannten Raschi-Schrift – rund um den auszulegenden Primärtext. Wobei die nach Raschi benannte Schrift nicht direkt mit dem überragenden Gelehrten aus der Champagne zu tun hat, sondern mit frühen drucktechnischen Überlegungen aus dem 15. Jahrhundert zusammenhängt.
Mit «Chumasch mit Raschi» würde ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ich würde ganz auf der Linie von Philosophin Agnes Callard meine jüdische Identität im Alter nähren. Ausserdem könnte ich noch eine Scharte auswetzen: Als Jugendlicher hatte ich mit der Raschi-Schrift im zwangsverordneten Religionsunterricht so meine liebe Müh’ und Not. Weshalb mich dann das, was Raschi gesagt hat, nicht mehr gross interessiert hat. Obendrein wäre «Chumasch mit Raschi» ein erfolgversprechendes Mittel, um für «Bitul Seman» gar keine Zeit mehr zu haben.
Roger Weill war in den 1990er-Jahren Redaktionsleiter der «Jüdischen Rundschau» und des «Israelitischen Wochenblatts».
standpunkt
19. Dez 2025
Keine Zeit für «Bitul Seman»
Roger Weill