Das Jüdische Logbuch 19. Jul 2019

Visionen am Bosporus

Istanbul, Juli 2019. Istanbul ist wieder einmal im Wandel. Seit Ekrem Imamoğlu vor zwei Wochen die Wahl zum Bürgermeister zum zweiten Mal nach der Annullation des erstens Siegs vom März mit grossem Vorsprung für sich entschieden hat, findet die Stadt am Bosporus zum Modus von einst zurück. Plötzlich stehen die Diskussionen unter anderen Vorzeichen: Interventionen in Syrien, Waffenlieferungen, Aufnahme von Flüchtlingen, Wirtschaftskrise, die geopolitische Metasituation eines Landes, das an der Schnittstelle von Asien, Russland und Nahost seine Zukunft neu definieren muss. Atatürks Erbe wendet sich mit einem Male wieder sichtbar gegen die Erdogan-Jahre – denn verschwunden war es nie. Laizismus, Demokratie und Säkularismus stellen sich nach wie vor Erdogans Versuch entgegen, das Land endgültig zu theokratisieren.

Es ist Montagabend auf einer Terrasse über den Dächern von Istanbul. Von Weitem sind die überdimensionalen türkischen roten Flaggen zu sehen, die viele Hochhäuser aus Anlass des dritten Jahrestages des gescheiterten Putschs der Gülan-Bewegung bedecken. Repression, Verhaftungen, Einschränkung der Presse- und Redefreiheit sind unüberseh- und -hörbar. Dennoch sprechen die Unternehmer und Intellektuellen an diesem Abend die Themen offen an. Die 16-Millionen-Stadt am Bosporus hat rund 800 000 der 3,7 Millionen Syrien-Flüchtlinge aufgenommen und ihnen einen Status gegeben, der ihnen Zugang zu Arbeit, Bildung und Gesundheitsversorgung gibt. Für die Unternehmer am Tisch sind die Herausforderungen der Flüchtlingssituation tägliche Realität. Sie schaffen Ausbildungsprogramme und Arbeitsplätze, kämpfen um die Integration der Menschen aus Syrien und versuchen, die Belastungen für das Land zu tragen ebenso wie ihre Partner etwa in Libanon und Jordanien, wo nochmals rund 3,5 Millionen Syrer Zuflucht fanden. Das Regime Erdogan, so der Tenor am Abend, sei in seiner letzten Phase. Der vermeintliche Sultan soll schwer krank sein. Die Waffenlieferungen aus Russland beherrschen die Diskussion. «Wir wollten amerikanische Patriots, um die Bombardements an der syrischen Grenze zu parieren. Doch die Amerikaner wehrten bis auf ein paar Leihgaben aus Holland ab. Die Türkei will Verteidigungswaffen und bekommt Hohn», sagt ein Unternehmer, der im ganzen Nahostraum mit ökologischen Rohstoffen handelt. Wie viele am Tisch, ausnahmslos Gegner des Regimes, sehen sie die Türkei von Europa und den USA in die Ecke gedrängt und mit der Sorge konfrontiert, was die Zukunft bringen mag. Die Option China und Russland als Kooperationspartner in greifbarer Nähe, hoffen viele auf eine Lösung mit dem Westen – doch so recht mag niemand daran glauben. Mit Blick auf die monderleuchtete pulsierende Stadt auf der asiatischen Seite rückt die Frage näher, was denn geworden wäre, wenn die Türkei etwa 2008 in die Europäische Union aufgenommen worden wäre. Wie hätten sich Geopolitik, Wirtschaft und letztlich auch die Gesellschaft in der letzten Dekade verändert?

Einige Stunden davor ein Treffen mit Vertretern der jüdischen Gemeinde und dem Redaktor der jüdischen Wochenzeitung «Schalom». Insgesamt gehe es der jüdischen Gemeinschaft in der Türkei gut. «Besser als in Europa. Von dort hören wir von steigendem Antisemitismus.» Solchen gibt es zwar auch in der Türkei, doch habe er sich bis auf Exzesse unter Islamisten oder der radikalen Linken nicht gross verändert. Seit der Eskalation um das Schiff «Marmara» mit Hilfsgütern von Gaza habe sich die Situation beruhigt. Ein ehemaliger Diplomat erzählt, dass hinter den Kulissen die diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und Türkei nach wie vor stark und gut, aber in der Öffentlichkeit nicht mehr sichtbar seien.

Tags darauf finden sich an der Bahcesehir-Universität (BAU) im Rahmen der Sommer Universität der UNESCO-Partnerin Project Aladdin Studenten aus rund 40 Ländern ein. In diesem Jahr zum Thema «Integration von Muslimen in Europa». Professoren aus aller Welt verhandeln zwei Wochen lang mit den Studenten soziologische, rechtliche, gesellschaftspolitische Fragen. Es ist das einzige Programm weltweit, in dem Studenten aus Israel und Palästina offiziell zusammenarbeiten. Der israelische Generalkonsul hebt das Programm an diesem Tage hervor. Überall in der Universität strahlt Atatürk von den Wänden. Es ist Mittagszeit. Enver Yücel sitzt auf der Terrasse vor seinem Büro unmittelbar am Bosporus. Yücel hat vor über 20 Jahren die BAU gegründet. Geboren in einem kleinen Dorf am Schwarzen Meer musste er täglich über zwei Stunden in die Schule laufen. Als er später in Istanbul als junger Mann zu arbeiten begann, entwickelte er eine Vision für Bildung, die zum Programm wurde. Eine Universität hat er nie besucht, aber begründet. Inzwischen ist die BAU die grösste Privatuniversität Europas und Yücel der Visionär geblieben, der er war. Am Tisch sitzen bei Zitronenwasser und Tee die Direktoren der über fünf Städte verstreuten Universitäten. Zur Diskussion stehen neue Projekte wie Universitäten für Flüchtlinge und Frauen in Provinzgebieten. Yücel war es, der vor rund zehn Jahren mit der Aufarbeitung der Geschichte der während des Zweiten Weltkriegs in die Türkei emigrierten jüdischen Professoren begann und sie mit Publikationen und Konferenzen in die Öffentlichkeit brachte.

Die Männer und Frauen am Tisch haben sich um die Politik im Lande wenig geschert, sondern die gesellschaftspolitische Realität vor Augen mit Änderung durch Zugang zu Bildung, Wissen, Lehre und internationale Vernetzung begonnen. Es ist ihre Antwort zugleich gegen jegliche Radikalisierung religiöser und ideologischer Strömung mit einem selbstbewussten Engagement für eine offene, säkulare und laizistische Gesellschaft, die dringende Themen der Gegenwart nicht der Politik alleine überlassen will. Ein Teil des modernen Europas ist am Bosporus entstanden und will es nicht loslassen. Europas Populismus, Antisemitismus, Islamophobie oder etwa die Stigmatisierung von Migranten werden die engagierten Türken nicht Europa alleine überlassen wollen – wissend, dass Europa und die Türkei irgendwann zueinander finden müssen.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann