Stockholm, Juni 2019. Der Vater und seine kleinen Kinder laufen mit Kippa auf dem Gehsteig nach Hause. Es ist sehr hell an diesem Freitagnachmittag; die Sonne strahlt, und das Grün in der ganzen Stadt strahlt ihr entgegen. «Wann beginnt hier Schabbat in der Stadt, da es im Sommer nicht Nacht und im Winter nicht Tag wird?» Der ca. 45-jährige Mann antwortet lächelnd: «Ja, es ist nicht einfach, hier den Schabbat richtig einzuhalten. In der Beit Knesset Hagadol beginnen Mincha/Maariw das ganze Jahr um 18.30 Uhr, im orthodoxen Minjan im Gemeindehaus heute um 20.30 Uhr.» Am Tag zuvor eröffnete mitten im ältesten Stadtteil Stockholms das jüdische Museum in der 1745 errichteten und wiederentdeckten Synagoge. Es ist ein kleines Museum inmitten einer idyllischen Umgebung mit kleinen Cafés, prächtigen Gebäuden mit kleinen Geschäften und Gassen. Wie eine Filmkulisse. Erzählt wird im Museum die Geschichte der Juden vor, während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg sowie über rituelle Bräuche der schwedi-
schen Juden. Seit die Synagoge 1870 nicht mehr in Betrieb war, wurde sie als Geschäft und zuletzt als Architekturbüro genutzt. Als das Haus zum Verkauf stand, formierte sich eine Stiftung für die Errichtung des Museums. Rund 18 000 umfasst die jüdische Gemeinschaft Schwedens, die in den letzten Jahren immer wieder wegen antisemitischer Attacken in Malmö in die Schlagzeile geraten ist. Mittlerweile ist es Abend. «In Stockholm», erzählt die Rabbinerin nach Kabbalat Schabbat bei der Begehung der prächtigen grossen Synagoge inmitten von Stockholms mondänem Zentrum, «haben wir keine Probleme mit Antisemitismus.» Gegenüber der Empore steht eine riesige Orgel in der vor allem mit Holz ausgestatteten Synagoge. Auf Nachfrage eines amerikanischen Kreuzfahrttouristen, wie es denn generell um den Antisemitismus stehe, sagt die Rabbinerin der «Conservativ»-Gemeinde: «Neben dem alten Antisemitismus ist jener der rechtsextremen Neonazi-Szenen generell am Erstarken.» Vereinzelt gäbe es vor allem in Malmö Vorfälle unter muslimischen Migranten, führt ein Gemeindeverantwortlicher weiter aus, und die Rabbinerin fügt an: «Präsident Donald Trump hat Wind in die Segel der rechtsextremen Bewegungen gebracht.» Diese seien vor allem über die letzten Jahre am Zulegen. Eine junge Frau mit Vornamen Gal meldet sich und beginnt mit stockender Stimme zu erzählen: «Geboren als Muslima und inzwischen zum Judentum übergetreten, war ich Aktivistin in der Türkei in einer Gruppe gegen Antisemitismus.» Nachdem die türkische Polizei sie wegen ihres Engagements als Aktivistin verhaftete und ins Gefängnis steckte, drohte ihr ein Prozess. Gal erzählt, wie sie unter abenteuerlichen Umständen das Land verlassen konnte und nach der Flucht in Schweden als politische Verfolgte Asyl bekam. Nun lebt sie seit bald einem Jahr im Land; hier hat sie den in Stockholm geborenen und aufgewachsenen Adam getroffen. Die beiden heirateten im letzten Herbst und gründeten ein Startup-Unternehmen. Gal ist sichtlich aufgewühlt. Weinend fällt sie ihrer Mutter um den Hals, während die anderen Besucher die Synagoge verlassen. Die in der Türkei lebende Mutter besucht sie für ein paar Tage; sie hatten sich seit der Flucht nicht mehr gesehen. Draussen ist es noch immer taghell, die Möwen kreisen am Himmel. Zur Linken steht das Holocaustdenkmal, und vor dem Tor der Synagoge erinnert ein riesiges Monument an den schwedischen Judenretter Raoul Wallenberg.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
Das Jüdische Logbuch
21. Jun 2019
Tränen der Freiheit
Yves Kugelmann