das jüdische logbuch 12. Jun 2025

Schawinskis Kompass

Zürich, Juni 2025. Roger Schawinski hat in der Schweiz den öffentlichen Raum neu definiert - als Emanzipationsraum. Er hat den Verfassungsauftrag für freien, unabhängige Journalismus im Besten Sinne bei den Hörnern gepackt und ihm jene Vielfalt, Kreativität und Plattformen ermöglicht, die die gesellschaftspolitischen Diskurse voran gebracht haben. In einem einfachen jüdischen Arbeiter- und Migrantenmilleu aufgewachsen, war sein Weg der Autoemanzipation keine Anbiederung an die Gesellschaft, sondern oft die Konfrontation mit ihr auf Augenhöhe. So auch diese Woche bei der Feier zu Schawinskis 80. Geburtstag an der neben Familie und Freunden viele der wichtigen Exponenten aus Schweizer Medien, Kultur, Wirtschaft oder Politik zugegen waren an einem Abend zwischen jüdischer Musik von Alexander Olshanetsky bis Georg Kreisler. Die Antwort auf Ausgrenzung in der Moderne ist Emanzipation. Emanzipation von Fesseln aller Art: die selbst auferlegten, jene der Gesellschaft, von Freunden und Feinden. Rückzug aus der Gesellschaft, aus der Res Publica können zur Selbstaufgabe führen. Das Gegenteil von Emanzipation. Doch wie kann Aufbruch, Fortschritt und Neu-Justierung in Zeiten der Krisen, Konflikte, Kriege funktionieren? Diese Frage stellt sich für die jüdische Gemeinschaft nochmals neu seit dem 7. Oktober 2023. Für viele Jüdinnen und Juden ist das Massaker der Hamas an Israeli Anfangspunkt einer neuen Epoche, Paradigmenwechsel in der Betrachtung des Nahostkonflikts oder jüdischen Existenz der Moderne. Er führte zu Rückzug aus dem öffentlichen Raum, der Sichtbarkeit, hinter neue physische und andere Mauern. Sicherheit, der Fokus auf Antisemitismus, Ängste bestimmen Alltag, Gedanken und Emotionen – und schliesslich anderes Verhalten. Für viele Jüdinnen und Juden hat der wie auch immer definierte Plan A nach 1945 nicht funktioniert, der wie auch immer ausgestaltete Plan B ist im Zuge der Verwerfungen der letzten Jahre in Gesellschaft, Wirtschaft, Politik keine Option mehr. Für viele andere steht das Datum 7. Oktober 2023 als Endpunkt einer Entwicklung, auf die der Nahostkonflikt über Jahrzehnte zusteuerte und mit dem Gaza-Krieg Bestätigung findet, dass eine bilaterale Lösung mit Palästinensern in weite Ferne gerückt ist. Doch was ist in einer Situation der Verhärtung, Spaltung, Trennung und des Rückzugs die Antwort? Das Gegenteil. Wer in der offenen Gesellschaft lebt kommt nicht umhin, daran zu partizipieren. Denn das ist Demokratie abseits der Wahlurne: Partizipation, offene Stimmen und freie Räume im Öffentlichen -in deren Mitte sich die jüdische Gemeinschaft mit der Breite der individuellen Vielfalt begeben soll. Schawinskis Lebenswerk ist die Öffnung der Res Publica – gerade auch für die jüdische Gemeinschaft. Sein Widerspruch, seine Replik und Interventionen sind Emanzipation und letztlich der einzige Weg nach vorne. Die Freiräume, die er geschaffen hat, sind der Kompass in die Zukunft – trotz allem und jetzt erst Recht.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann