das jüdische logbuch 06. Jun 2025

Realativitäten in Absoluten Zeiten

Nizza, Mai 2025. «Das hätte ich nicht gedacht», sagt der gute Bekannte. Hoch gebildet, die jüdischen Schriften über Jahrzehnte gelernt, lebt er in der säkularen Welt. Ein offener Denker, der sich nicht an ideologische Barrieren und schon gar nicht an gängigen Konzepten orientiert. – Was, wenn sich Ereignisse ausserhalb einer Referenz-Matrix bewegen, die sich Erfahrungen, Geschichtsschreibung und gewohnter Logik entziehen? Wenn Willkür zum Programm wird und politische Entscheidungen kaum mehr voraussehbar sind? Die Verhandlungen zwischen den USA und Iran, der Ukraine und Russland, jene über einen Waffenstillstand in Nahost folgen einer neuen Unlogik ohne Gesetzmässigkeiten. Das kann auch gut sein, als ein Aufbrechen von festgefahrenen Rastern. Doch bei vielen ist das Vertrauen darauf kleiner als die Furcht vor der Eskalation. In dieser politischen und geopolitischen Grosswetterlage ist die Verortung jüdischer Fragen, die Beurteilung dessen, was für jüdische Gemeinschaften mehr Sicherheit oder Unsicherheit bringen mag, noch schwieriger geworden. Es gibt keine Linearität in den Ereignissen – aber die Gewissheit, dass Minderheiten und darin die jüdische immer die ersten Opfer von Chaos und Willkür sind. Das zumindest lehrt die Geschichte – und das wird sich so schnell nicht ändern können, weil darin eine Logik steckt. An diesem Abend sagt er mitten im Gespräch über Nahost und den Krieg in Israel: «Ich hätte nie gedacht, dass wir so gewalttätig werden können. Das sind nicht wir.» So geht es vielen in diesen Tagen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, die sich gegen die massiven Reaktionen im Nahostkrieg zu wehren und irgendwo eine Linie zu definieren versucht, die keine Selbstaufgabe bedeutet. Was ist richtig, was ist falsch? Richtig ist, in der Situation über die Situation zu sprechen – mit welchem Zugang auch immer.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann