das jüdische logbuch 30. Mai 2025

Paul Celan oder Gratian Anda

Cannes, Mai 2025. Der Film lebt. Und wird zusehends zum Widerstand gegen Despoten, Autokraten, Kulturfeinde. Die letzten Freiräume müssen solche bleiben und verteidigt werden. Fragile Räume, die Zeichen setzen – auch in diesem Jahr mit der Auszeichnung von «It Was Just an Accident» des iranischen Regisseurs Jafar Panahi. Der Film behandelt die Geschichte ehemaliger politischer Gefangener, die zufällig ihren früheren Folterer wiederfinden und mit Fragen von Rache und moralischer Verantwortung konfrontiert werden.

Die Geschichte bleibt auch in Cannes dokumentiert mit «Das Verschwinden des Josef Mengele». Derweil spielt sich in Zürich eine neue Bührle-Postille ab. Wieder soll die Sammlung des Nazi-Kollaborateurs nicht unabhängig aufgearbeitet werden; die Milliardärsfamilie Bührle, die privat noch weitere provenienzbelastete Bilder in ihren Häusern hängen hat, die nie untersucht werden, will Geld für die Provenienzklärung des belasteten Erbguts im Kunsthaus von der Stadt Zürich – die letztlich das ganze Schlamassel zu verantworten hat. Einen Persilschein für dieses Vorgehen gibt es ausgerechnet von jüdischer Seite.

Am 11. Mai 1960 treffen sich die Schoah-Überlebenden und Dichter Paul Celan und Nelly Sachs im Hotel Storchen in Zürich. Beide waren durch die Shoah traumatisiert, schrieben Lyrik in deutscher Sprache im Exil und standen seit Jahren im brieflichen Austausch. Ihr Treffen war von einer tiefen, aber auch tragisch schweren Intensität geprägt. Während Sachs in Celan eine Art Seelenverwandten sah, war Celan emotional zurückhaltender. Das Gespräch – eher eine wortlose Annäherung zweier Verwundeter – dauerte rund zwei Stunden. Danach gingen sie schweigend auseinander.

Das Treffen gilt als symbolischer Moment der Nachkriegsliteratur: Zwei Überlebende, zwei Stimmen der Dichtung «nach Auschwitz», begegnen sich – ohne Lösung, aber mit einem unausgesprochenen gegenseitigen Verständnis. Sie sollten sich danach nie wieder sehen.

Im Gedicht «Zürich, zum Storchen» schreibt Celan 1961:

«Vom Zuviel war die Rede, vom / Zuwenig. Von Du / und Aber-Du, von / der Trübung durch Helles, von / Jüdischem, von / deinem Gott.»

In einem Brief nannte Celan das Treffen später «schmerzlich», und in einem Schreiben an Sachs schreibt er: «Ich konnte nicht sprechen, Nelly, ich war sprachlos, ich war dir und deinem Leid nicht gewachsen.»

1938 kaufte der Nazi-Kollaborateur Georg Emil Bührle das Hotel. Es gehört heute dem Erben und Enkel Gratian Anda. Im Jahre 2022 zahlte die Stadt Zürich 8 Millionen Franken an Zwangsarbeiter von Bührle. Jetzt will er 3 Millionen Franken von der Stadt für Provenienz und anderes.

Schamlos – und die Frage: Wann beginnt man, sich für solch arrogantes, uneinsichtiges, dogmatisches Verhalten zu schämen?

Paul Celan kannte die Ambivalenz: «Wir wissen ja nicht, weisst du, / wir wissen ja nicht, / was / gilt.»

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann