Frankfurt, Juni 2019. «Wo ist die nächste Buchhandlung?» – Der Stau auf der Autobahn ist ein Segen. Die Fahrt vom Flughafen Frankfurt in die Main City dauert fast eine Stunde und es wird ein faszinierendes Gespräch über das heutige Europa. «Es wird keine zweite Schoah geben», sagt die 1929 geborene Holocaust-Überlende Ágnes Heller. Sie lebt in Budapest und New York, wo sie am Hannah-
Arendt-Lehrstuhl New School for Social Research in New York lehrt. Seit Jahrzehnten ist sie die Stimme der Freiheit in Ungarn. Unter dem kommunistischen Regime ebenso wie heute unter jenem von Viktor Orbán. «Orbán ist ein Diktator, aber Ungarn ist keine Diktatur.» Mit klaren Worten seziert sie Entwicklungen der Gegenwart und weist auf die Gefahren im zunehmenden Aufkommen von extremen rechten Parteien wider die liberale Gesellschaft hin. Sie warnt vor ethnischem Nationalismus, der geradewegs auf Rassismus und in der Regel auch Antisemitismus zusteuert. «Totalitarismus ist modern», sagt Heller und erinnert an Hanna Arendts wichtige Erkenntnis in ihrer Totalitarismus-Studie, dass er eben nicht aus dem tiefen Mittelalter, sondern weitgehende aus dem 20. Jahrhundert stammt. «Modernität ist nicht nur die liberale Demokratie, sondern diese Art von Totalitarismus.» Heller hält daran fest: Eine zweite Schoah wird es in Europa nicht geben, denn «die Geschichte wiederholt sich nie». Doch ein Krieg in Europa könnte schneller und verheerender drohen, als sich viele vor noch nicht allzu langer Zeit vorstellen konnten. Das Diktum Auschwitz als Abwehr gegen Krieg sei naiv. Europa ist zwar in seiner heutigen Konstitution kausal mit der Schoah verbunden. Doch dies kann sich rasch wandeln in einem Europa, das zwar starke demokratische Verfassungen kennt, aber zunehmend von Mehrheiten bedroht wird, die «Halbdiktatoren» generieren. «Orbán ist kein Antisemit. Aber wenn er den Antisemitismus benötigt, wird er ihn sich kompromisslos zu eigen machen.» Wer, wie Heller unter Nationalsozialismus und Kommunismus gelebt hat, entwickelt ein feines Sensorium für Entwicklungen. Ein totalitäres Regime in Europa sieht Heller im Moment nicht als wahrscheinlich, aber auch nicht als ausgeschlossen. «Jedes Regime braucht eine Ideologie.» Und zu diesen sagt sie: «Heute sind die ethnischen nationalistischen Ideologien passiv, die nicht für, sondern vor allem gegen etwas votieren.» Heller verweist auf Nietzsches Wort der nihilistischen Ideologien und die heutigen «Vereidigungsideologien», die nur noch gegen und nicht für etwas auftreten. «Wir leben nicht mehr in einer Klassen-, sondern in der Massengesellschaft», diese wiederum sei willkürlicher konstituiert, wenn es um die Etablierung von Mehrheiten ginge. Die säkularisierten Ideologien berufen sich nicht auf Religion, sondern vermehrt auf Nation. Heller argumentiert rasch, präzis und schöpft nicht nur aus einem klassischen Werk mit vermeintlicher Nostalgie sondern agil aus der Gegenwart.
Die nächste Buchhandlung ist nicht mehr weit. Neue Feudalsysteme in Demokratien, die Rolle der politischen Parteien in Demokratien für die Sicherung des Sozial- und Wohlfahrtsstaat in Abgrenzung auch zur amerikanischen Demokratie oder die Diskussionen über Werke zu Hegel, Heine und Heidegger oder die Situation über das jüdische Leben in Ungarn oder die antisemitische Regierungskampagne gegen George Soros schliessen sich an. «Schaffen wir es noch in die nächste Buchhandlung?» Die Fahrt im Schritttempo führt auch zur Erkenntnis, dass das Verständnis der Situation in Europa noch vom Rande aus verstanden werden kann – also von dort, wo sie bröckelt und bedroht wird. Vor drei Wochen feierte Ágnes Heller ihren 90. Geburtstag und schreibt an ihrem neuen Buch. «Lassen Sie uns jetzt beim Kaffee über Popper sprechen.» Es wird eine lange Nacht.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
Das Jüdische Logbuch
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Autofahrt in die Freiheit
Yves Kugelmann