Istanbul, Juli 2023. Späte Nacht, die Strassen belebt. Die Fähre beim Besitkas-Meydan-Platz fährt los. Der Name des Platzes könnte symbolischer nicht sein. Auf der Promenade am Wasser gehen die Menschen auf und ab, die Cafés sind immer noch gut besucht und ein Strassenmusiker zieht Dutzende von Menschen an. Die kosmopolitischste aller Städte ist Istanbul geblieben – doch vieles hat sich geändert in den letzten Jahren.
Liegt das Zentrum Europas nun am Bosporus – oder war es schon immer dort? Die türkische Republik trägt das osmanische Erbe weiter, für Europa auf eine zwiespältige Weise. Das hat sich in den letzten Jahren der Flüchtlingskrisen, der Kriege in Nahost und gegen die Ukraine immer wieder gezeigt. Doch kann, soll Europa auf die Türkei verzichten? Bringt die wandelnde Geopolitik Europa und die Türkei immer näher zusammen? Ja und nein. Wenn Europa die Türkei verliert, als Knotenpunkt mit der ganzen Scharnierkompetenz, dann verliert es seine ohnehin schwindende Bedeutung im Osten und Süden. Die Türkei diktiert die Natoerweiterung, treibt den Preis höher und höher, erpresst von den USA F15-Lieferungen. Es ist die Bazar-Expertise, mit der der Westen schon seit jeher überfordert ist. Für Europa ist sie mühsam, offenbar Kulturclash und eine vermeintliche Willkür, mit der schwer umzugehen ist. Doch ist sie umgehbar? Erdogan tanzt auf allen Hochzeiten immer in Gefahr, auf einer zu viel vom Parkett zu stürzen. Bis jetzt allerdings hatte Erdogan das feine Gespür dafür, zum richtigen Zeitpunkt seine Strategien anzupassen. Kein Land hat so viele Flüchtlinge aufgenommen wie die Türkei in den letzten Jahren. Rund vier Millionen laut offiziellen Zahlen. NGO-Mitarbeiter vor Ort gehen von höheren Zahlen aus.
Die Aula der Bahcesehir-Universität liegt in Europa, ist an diesem Nachmittag voll. Die imposante Sicht auf den Bospurus mit Blick nach Asien versinnbildlicht die anderen Perspektiven und Gemengenlage. Der Vorhang geht zu, damit die Studenten sich auf Vorlesungen und Panels konzentrieren können. An diesem Morgen hören Studenten aus rund 40 Ländern einem Panel zu den Auswirkungen des Klimawandels auf gesellschaftspolitische Fragen zu, später folgt eines über Erinnerungskultur. Anver Yüksel, der einfache Bauernsohn aus einem kleinen Dorf am Schwarzen Meer, hat die Universität gegründet. Er, der nie studieren konnte, träumte davon, das alle jungen Menschen ein Studium absolvieren können. Inzwischen hat er in der ganzen Türkei und Ländern weltweit Campus der BAU-Universität etabliert. 25 Jahre feiert die Universität in diesem Jahr, Studenten aus 120 Ländern finden sich auf den fünf Campus in Istanbul zusammen. Dann entfacht sich eine lebhafte Debatte nach dem Panel «78 Jahre nach dem Holocaust: Was hat die Welt gelernt?». Die Studenten fragen nach, die Diplomaten, NGO-Vertreterin, Experten antworten. Ein Student aus der Türkei steht auf und stellt die Frage, vor der sich alle gefürchtet haben: Wie kann man Erinnerungsarbeit an den Holocaust vollführen in einem Land das den Genozid an den Armeniern verschweigt? Der Sohn eines Armeniers und einer Jesidin fragt ohne Polemik. Er wird unterstützt von einem israelischen Studenten, aus dem Land, das den armenischen Genozid bis heute nicht anerkannt hat. Und so fort: Die Palästinenserin, die interessiert am Aufklärungsprogramm zum Holocaust teilnimmt, möchte wissen, wie andere Konflikte, Massaker, Genozide sinnvoll thematisiert und bewältigt werden können in dieser Gruppe – auch die Frage zur Besatzung Israels. Die Fragen bleiben besser als die Antworten, Fragen, die Antworten gar nicht mehr benötigen in der Art, wie sie vorgebracht und gestellt werden. Voller Respekt, Ruhe und Wissensdurst. Die Studentinnen und Studenten wurden aus 70 Universitäten für ein UNESCO-Programm rekrutiert aus allen Teilen der Welt. Darunter auch einige jüdische Studentinnen und Studenten aus den USA, der Türkei, Israel und Europa.
In der Türkei leben noch 15 000 Juden, verteilt auf Istanbul und Izmir. 1948 waren es 120 000. Gezählt werden die Steuerzahler. Die Situation sei gut für die jüdische Gemeinschaft, sagt ein Vertreter des Dachverbands der Juden in der Türkei. Fünf Synagogen von 13 seien im Moment in Betrieb. Die Zahl der gemischten Beziehungen allerdings sei hoch. Beziehungen und Ehen zwischen jüdischen, christlichen und muslimischen Menschen seien in der Türkei normal. Ladino sprechen nur noch wenige. Er spricht es zu Hause.
Am Abend empfängt ein Unternehmer Freunde des aufgeklärten Dialogs auf einer Terrasse am Bosporus. Die Gäste äussern sich kritisch über Erdogan. Seit den Wahlen hätte dieser zwar eine liberalere Haltung eingenommen, bis zu den nächsten lokalen Wahlen im Herbst. Doch niemand macht sich Illusionen über den derzeitigen wirtschaftlichen und politischen Niedergang des Landes. Die Realwirtschaft, Kapital- und Exportmarkt seien teilweise ruiniert. Immerhin in einem Land, das vor zehn Jahren noch zur wirtschaftlichen Weltspitze gehörte. Da der weltweit tätige Unternehmer mit einer Personalrekrutierung, dort ein Anwalt und gegenüber internationale Diplomaten. Die Privatwirtschaft sei zwar nicht korrupt, die Politik schon. Rasch wird aber auch deutlich, dass die Türkei, die an ihren Aussengrenzen mit den gefährlichsten Kriegstreibern Russland, Syrien, Iran und so fort konfrontiert ist, längst auf lokale Konflikte und geopolitischen Wandel eingetreten ist, während Europa Balkan-, Ukraine- und Nahostkriege mit verschlossenen Augen durchstehen wollte im Windschutz der USA. Bis tief in die Nacht wird diskutiert. Die meisten Gäste haben komplexe Migrations- und Fluchtbiografien, wie das in dieser Region normal ist. Das vermeintlich Fremde ist die Mehrheit und Minderheiten lösen sich in einem Spektrum einer Gesellschaft auf, die divers ist seit Jahrhunderten, gelebte Kultur und nicht per Quote. Ein Unternehmer sagt, die Türkei wird in den nächsten Monaten wirtschaftlich implodieren. Das sei unumgänglich. Die Republikaner verarmen, die Bauern würden zu Königen, die Islamisierungstendenzen, angetrieben von Erdogan, seien problematisch und dem laizistischen Staat fremd. Zumindest auf den Strassen Istanbuls spürt man diese. Die vielen jungen Menschen, viele Frauen mit Kopftuch, feiern, leben vitaler zusammen als in anderen Teilen Zentraleuropas. Ob letztlich die USA und die Türkei derzeit näher zusammenrücken, wird für die kommenden Monate entscheidend. Die USA und die Türkei sind bei der Lösung von Konflikten in Russland, Nahost und Iran in einer Zweckverbindung. Ein hoher amerikanischer Diplomat sieht das ebenso pragmatisch wie sein kanadischer Kollege. Europas Werte sollten jene für die Welt werden, doch sie könnten nicht durch Philosophen vermittelt werden, sondern benötigen eine sicherheits- und wirtschaftspolitische Architektur, die sich machtpolitischen Fragen stellt. Das Paradoxon der Gegenwart ist, dass die Freiheit ohne Demokratien auf Abwegen, die vor dem eigenen Verderben auch für andere bewahrt werden müssen, kaum mehr verteidigt werden kann.
Im Wasser spiegeln sich die Lichter der Brücken und Boote. Ein reger Verkehr wird sich durch die Nacht ziehen. Und Gedanken über Dilemmata, die Europa in Friedenszeiten hätte lösen sollen.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
21. Jul 2023
Ambivalenzentango am Bosporus
Yves Kugelmann