Jerusalem, Dezember 2025. Auf dem Campus der Hebräischen Universität auf dem Har Hazofim ist möglich, was ausserhalb Israels nicht mehr ohne verbalen oder gar physischen Aktivismus, ohne Konfrontation und Krieg der Worte möglich ist: Begegnung, Dialog, Austausch zwischen Juden und Muslimen, Israelis und Arabern – und so vielen anderen.
Die Stadt leuchtet in der klaren Dezember-Sonne. Im dritten Stock des Cheshin-Gebäudes tagt die Konferenz «World in Flux: Child and Youth Rights in an Age of Radical Uncertainty». Organisiert vom Child and Youth Rights Program der Hebräischen Universität Jerusalem vereint sie internationale Expertinnen und Experten aus Recht, Sozialwissenschaften und Bildungsforschung. Im Fokus stehen die Auswirkungen globaler Unsicherheit und aktueller Krisen auf Kinder- und Jugendrechte. Die Panels behandeln normative und empirische Ansätze zu Wohlbefinden, Schutzfaktoren, schulischer Resilienz, religiösen und kulturellen Kontexten sowie institutioneller Rechtedurchsetzung. Besonderes Augenmerk gilt den Folgen des Israel-Gaza-Krieges für Kinder verschiedener Bevölkerungsgruppen. Globale Herausforderungen wie Flucht, Umweltwandel und Identitätsfragen werden diskutiert. Ohne Provokation, aber mit Position. Ohne despektierliche Herabwürdigung der anderen, dafür mit guten Fakten und Argumenten. Ohne Konfrontation, sondern Dialogkompetenz.
Wäre so etwas in Berlin, Paris, Lausanne oder New York möglich – ohne Geschrei vor, während oder nach dem Kongress? Ohne Konfrontation im Netz, ohne offene Warnbriefe, Drohungen im Hintergrund mit Sanktionen und Angriffe auf Protagonisten? An diesem Tag hören sich Menschen voller Respekt zu. Menschen, die direkt betroffen sind von den letzten zwei verheerenden Jahren – von Massaker, Gaza-Krieg, getöteten Zivilisten, gefallenen Soldaten oder Gewalt, Vertreibung und Faschismus rechtsextremer Siedler in der Westbank. Die Teilnehmenden sind divers: aus allen Religionen, Jüdinnen und Muslimas mit oder ohne Kopftücher, Männer mit Kippa, teils mit Zizit. Ganz anders als an vielen Universitäten in Europa oder den USA, in Kultur- oder anderen Institutionen begegnen sich hier Menschen mit Respekt in ihrer Andersartigkeit.
Es ist kein Paradies, kein idealisierter Ort. Denn alle wissen: wenige Meter weiter tobt seit Jahrzehnten einer der heftigsten Konflikte. Präsentiert werden neue Forschungen, die die grossen Fragen zu Krieg und Gewalt nicht scheuen. Die meisten verhandeln nicht einfach Theorie, sondern haben Unrecht aus nächster Nähe erlebt. Da ist nichts wohlfeil. Die Menschen in diesen Räumen glauben an die liberale Demokratie, an Gewaltenteilung, den Rechtsstaat und eine diverse Gesellschaft, die aufrecht voranschreitet mit der je eigenen Identität, die Vertrauen hat in die oder den Anderen – und nicht vom Bösen, vom Stigma oder von Überhöhung ausgeht.
Von diesem real existierenden und durch Extremisten auf allen Seiten bedrohten Israel können sich viele in Europa und den USA etwas abschneiden. Auch und gerade jüdische Organisationen oder Verbalkrawallisten, denen man jene israelische Kompetenz wünschen würde, die zu oft negiert wird, und denen man am liebsten einen Satz jenes grossen Gelehrten am Campus, Jeschajahu Leibowitz, zurufen würde: «Religiöse Verehrung darf niemals zur Rechtfertigung von Gewalt dienen.»
Das gilt ebenso für nationale oder identitäre Verehrung, denen zu viele Kinder tagtäglich irgendwo auf der Welt und gerade in Nahost zum Opfer fallen.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
12. Dez 2025
Der Campus für alle
Yves Kugelmann