das jüdische logbuch 19. Dez 2025

Vom Chanukkalicht im Schwarzen Loch

Basel, Dezember 2025. Es wird wieder geschehen. Es war nicht das letzte Mal. Das hat nichts mit Fatalismus zu tun, sondern mit der inneren Logik der Dinge – auch dort, wo sie absolut irrational sind. Religiöser Fanatismus, säkularer Nationalismus und Rassismus sind Gift. An deren Ende steht immer das Morden im Namen einer «höheren Idee». Jüdinnen und Juden gehören in allen drei Kategorien überproportional zu den Zielen. Allerdings nicht singulär.

Die Singularisierung und oft auch die Verpolitisierung von Judenhass sind zu einem gefährlichen Bumerang geworden, der zwar Juden nicht verantwortlich macht, sie aber eben auch nicht ganz aus der Verantwortung nimmt in Zeiten, in denen gilt: Antisemitismus ist möglich ohne Juden. Das lehrt die Geschichte. Doch Antizionismus und Israelhass sind nicht möglich ohne Israel – ohne dieses Israel. Diese Gemengelage fordert heraus. Die Debatte darüber wird allerdings zu sehr tabuisiert, und jene, die sie führen, haben oft weder von Antisemitismus noch von Antizionismus eine Ahnung.

Alltagsdiskriminierung wird normalisiert, Warnrufe marginalisiert und Vorwürfe nicht mehr nachvollziehbar. Das brutale Attentat vom letzten Sonntag auf feiernde Jüdinnen und Juden am legendären Bondi Beach in Sydney hat unmittelbar eine neue Debatte zum Schutz der Jüdinnen und Juden entfacht. Sofort standen Forderungen im Raum, Versäumnisse von Geheimdiensten, Behörden und Politik in Australien wurden benannt. Vielleicht sind alle berechtigt – und zugleich sind die Dynamiken schneller als die Erkenntnis.

Die jüdischen Gemeinschaften sind weltweit verunsichert. Dass Israels Regierungen seit einigen Jahren als weltpolitischer Akteur im Kontext von Antisemitismus auftreten, dass jüdische Interessen inzwischen von politischen Parteien, religiösen Gruppierungen oder Lobbyisten regelrecht gekapert werden, empfinden viele als Solidarisierung – und es ist es vielleicht nicht. Jüdisches Leben darf nicht abhängig werden von Behörden und dem Goodwill von Regierungen. Jüdisches Leben muss integraler Bestandteil von Gesellschaften sein – ohne Gefährdung, auf Augenhöhe. Makkabi ist keine Antwort auf Amalek.

Wer glaubt, dass mit Polizei, ständig wachsenden Zuschüssen oder Kniefällen vor Behörden die Sicherheit der jüdischen Gemeinschaft nachhaltig verbessert wird, findet sich immer dann enttäuscht, wenn neue Ereignisse eintreten und die Forderungsspirale erneut angekurbelt wird. Wo also soll das hinführen? Die Radikalisierung extremistischer und teils stark gewaltbereiter Fraktionen ist nicht neu, doch sie ist Essenz einer über Jahre radikalisierten Debatte, gerade um den Nahen Osten.

Brüche sind integraler Teil der Kontinuität. Die jüdische Erzählung schreibt sich von Katastrophe zu Katastrophe, mit kleinen Wundern – aber nicht umgekehrt. Chanukka, Purim, Pessach erzählen von Katastrophen, von Vertreibung, Versklavung, Vernichtung. Gefeiert werden die kleinen Wunder. Das Attentat von Sydney ist eine weitere Katastrophe in der jüdischen Erzählung, Teil also einer Kontinuität, die keine Normalität werden darf. Das kleine Wunder – der selbstlose, mutige Retter Ahmed ben Ahmed – gehört ebenso dazu. Zur Kontinuität der jüdischen Erzählung gehört auch die nachvollziehbare Ohnmacht und Überforderung der Situation.

Nach dem 7. Oktober 2023 hat der Schriftsteller Navid Kermani zum Innehalten aufgerufen. Die Dynamik, der Teufelskreis der unreflektierten Agitation und des Missbrauchs von Situationen, die Zuspitzung durch Politisierung führen weiter. Die jüdische Gemeinschaft hat sich immer wieder in falscher Sicherheit gefühlt. Sie darf aber gleichsam nicht falsche Sicherheit als Allheilmittel etablieren, sondern muss das Primat des gesellschaftlichen Friedens vor alles stellen – verantwortet durch Menschen, die wissen, was das ist, und dies leben können. Das ist keine Frage der Moral, sondern der aufgeklärten liberalen Demokratie, geführt durch Vernunft, Gesetze und Gerichtsbarkeit.

Das Wunder von Chanukka war keines. Widerstand, Wille zum Überleben und Wehrhaftigkeit waren die Realität wider den Mythos. Wenn Juden nicht als normale Mitglieder der Gesellschaft wahrgenommen werden, sondern als Projektionsfläche für Wünsche, Ängste, Schuld, Bewunderung oder Hass, wenn Juden überhöht werden – als ewige Opfer, Mahner oder Gewissen der Gesellschaft – oder als Angriffsfläche für Verschwörungstheorien bis hin zur abstrakten Bedrohung, wenn sie ständig in Debatten instrumentalisiert werden, dann führt das nicht nur zu Entmündigung und Übergriff, sondern zur gefährlichen Fetischisierung des Jüdischen.

Die Chanukka-Geschichte lehrt, dass jegliche Auslöschungsfantasien nicht durch falsche Wunder, sondern durch richtige Selbstbehauptung beantwortet werden sollten – eingebettet in einen gesunden Organismus einer Gesellschaft. Sie kann zur Bedrohung oder zur Rettung werden. In dieser Ambivalenz sind allerdings viele Fragen zu klären. Oder wie Gershom Scholem sagte: «Im Judentum ist das Vergangene niemals vergangen.»

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann