In der israelischen Debatte um die Rekrutierung von Charedim, also streng orthodoxer Juden, werfen Letztere oft folgendes Argument in die Runde: «Thora magna umazla» («die Thora beschützt und rettet»). Gemäss der charedischen Rhetorik wäre nach diesem Grundsatz das Thorastudium wichtiger für die Sicherheit Israels als der Armeedienst.
Das erwähnte Zitat stammt aus dem Talmud. Im Traktat Sota wird erörtert, inwiefern das Einhalten der Gebote beziehungsweise das Thorastudium diejenigen Juden, die die Gebote praktizieren oder die Thora lernen, beschützt. Der Talmud stützt sich dabei auf den Bibelvers: «Denn eine Leuchte ist das Gebot und die Thora das Licht» (Sprüche 6:23) und erläutert dazu: «Die Schrift vergleicht das Gebot mit einer Leuchte und die Thora mit dem Licht. Das Gebot wird mit einer Leuchte verglichen, um dir zu zeigen, dass die Leuchte nur für eine Stunde brennt, ebenso schützt das Gebot nur für die Stunde; die Thora wird mit dem Licht verglichen, um dir zu zeigen, dass das Licht ewig leuchtet, ebenso wie die Thora ewig schützt» (Sota 21a).
In der Folge bringt der Talmud ein Gleichnis: «Wenn ein Mensch in Nacht und Finsternis wandert, so fürchtet er sich vor Dornen, Gruben, Brennnesseln, wilden Tieren und Räubern, auch weiss er nicht, welchen Weg er geht. Gelangt er zu einer Feuerfackel, so ist er vor Dornen, Gruben und Brennnesseln gerettet, aber er fürchtet sich noch immer vor wilden Tieren und Räubern, auch weiss er nicht, welchen Weg er geht. Ist die Morgenröte aufgegangen, so ist er auch vor wilden Tieren und Räubern gerettet, aber er weiss noch immer nicht, welchen Weg er geht. Erreicht er einen Scheideweg, so ist er vor allem gerettet» (ibid.). Der Talmud drückt damit aus, dass eine gute Tat beziehungsweise das Einhalten eines Gebotes, hier als «Feuerfackel» dargestellt, einen beschränkten Schutz bietet. Das Thorastudium, durch die «Morgenröte» versinnbildlicht, gewährt jedoch einen vollständigeren Schutz. Der «Scheideweg» im Gleichnis mag vielleicht das Verlassen des Diesseits und den Eintritt der Seele in die zukünftige Welt symbolisieren, was vollkommene Klarheit schafft. Jedenfalls ist der metaphysische «Schutz», den das Thorastudium mit sich bringt, besonders bedeutend.
Von welchem Schutz ist hier eigentlich die Rede? Etwa von Schutz vor einer feindlichen Attacke und der Rettung aus Feindeshand? Eher nicht. In der Folge erklärt der Talmud, dass das Verdienst des Thorastudiums den Menschen beschützt, selbst «wenn er sich nicht mit ihr befasst» (ibid.). Und wovor schützt die Thora? Vor dem bösen Trieb. Es besteht also kein Zusammenhang mit physischem Schutz. Diese Talmudquelle auf den gegenwärtigen Gaza-Krieg zu beziehen, ist zusätzlich unlogisch, ist doch die aktive «Rettung Israels aus der Hand eines Bedrängers, der es überfallen hat» (Rambam) gemäss der Halacha ausdrücklich eine «milchemet mizwa», ein «gebotener Krieg», der alle religionsgesetzlich verpflichtet. Ausserdem gewährt das Thorastudium gemäss obiger Talmudquelle den «Schutz» nur dem Studierenden, nicht jedoch anderen Personen. Die Idee, dass ausschliesslich das Thorastudium des Jeschiwa-Studenten den Soldaten an der Front rettet, lässt sich demnach nicht in unsere Quellen einordnen.
Das wichtigste Gegenargument ist jedoch ethisch-philosophischer Natur und wird vom religiös-zionistischen Rabbiner Amnon Basak auf den Punkt gebracht: «Die Argumentation ist höchst fragwürdig. Haben sich denn unsere Weisen je auf das Thorastudium verlassen, um in Anbetracht einer nahenden Gefahr das Unternehmen praktischer Schritte zur Selbstverteidigung zu vernachlässigen? Kann man denn nach der Schoah, in welcher Zehntausende jüdische Gelehrte ermordet wurden, überhaupt so etwas behaupten?»
Ein weiteres Argument, das aus dem charedischen Lager in die Debatte eingebracht wird, ist eine Talmudstelle, in welcher der Heeresengel dem israelitischen Heeresführer Jehoschua im Armeelager erscheint und ihn kritisiert, weil er in der Nacht das Studium der Thora unterlassen habe. «Da verbrachte Jehoschua jene Nacht in der Vertiefung» (Josua 8:9). Dies interpretiert Rabbi Jochanan im Talmud so, dass Jehoschua die Kritik ernst nahm, indem «er jene Nacht mit der Vertiefung in die Halacha verbrachte» (Megilla 3b).
Israel Friedmann, der Chefredaktor der israelischen Charedi-Zeitung «Jated Neeman», erkennt hier ein klares Indiz dafür, dass man «ohne Thorastudium keinen Krieg führen» könne. Die Talmudstelle lehrt uns jedoch das Gegenteil. Hier ist nämlich ausdrücklich vom Thorastudium in der Nacht die Rede. Raschi erklärt zur Stelle: «Jetzt, da es Nacht ist, hättet ihr die Thora lernen müssen, denn ihr führt ja in der Nacht keinen Krieg» (ibid.). Das heisst, die Talmudstelle befürwortet das Thorastudium in der Nacht nicht mehr, als sie der Kriegsführung am Tag beipflichtet. Dies ist ein weiteres Beispiel für eine Talmudquelle, welche in der israelischen Debatte nicht nur aus dem Kontext gerissen, sondern für politische Zwecke auch inhaltlich verunstaltet wird. Zudem erinnere man sich an zentrale biblische Führungspersönlichkeiten wie Abraham und König David, die nebst ihrer geschäftlichen oder musischen Tätigkeit auch mutige Krieger waren.
Ich bin kein Mystiker. Ich weiss nicht, wie das Thora-Studium auf die höheren Sphären einwirkt. Ich bin durchaus überzeugt, dass ein seriöses und ausgewogenes Studium der jüdischen Lehre einen Menschen inspirieren kann, ein intensiveres Leben zu führen. Aber religiöse Menschen sollten sich davor hüten, die metaphysische Kraft der Thora als Vorwand zu benutzen, um ihren physischen, moralischen und religiösen Pflichten, welche notabene Leben retten können, nicht nachzukommen beziehungsweise zu entkommen.
Emanuel Cohn unterrichtet Film und Talmud undlebt in Jerusalem.
Talmud heute
28. Nov 2025
Thorastudium anstelle Militärdienstes?
Emanuel Cohn