Sidra Wajetze 28. Nov 2025

Einer von uns?

Jakow ist auf der Flucht. Seine Mutter bat ihn in dringlicher Mission, die Familie zu verlassen, nachdem sie aus gut unterrichteter Quelle erfahren hatte, dass Esaw ihm wegen des erschlichenen Erbfolgesegens nach dem Leben trachtete. Jizak gegenüber argumentierte sie jedoch, dass ihr keine der lokalen jungen Frauen als Schwiegertochter willkommen wäre, weshalb sie Jakow zu ihrer Familie in Syrien auf Brautschau schicken wollte. Darauf segnete Jizak Jakow nochmals; den «falschen» Segen konnte er nicht zurücknehmen. Die Familie ist auseinandergerissen, endgültig.

Mit dem Sonnenuntergang bahnt sich eine lang anhaltende, prekäre und düstere Phase in Jakows Leben an. Rasch – die Dämmerung ist kurz – sammelt er Steine zum Schutz vor wilden Tieren. Einen Stein nimmt er sich als Kopfkissen. Er träumt. Der geträumte Gott verspricht ihm eine sichere Zukunft, nämlich Schutz und Begleitung bis zur Rückführung ins Land der Väter; doch unmissverständlich dauert der Schutz genau so lange, bis das göttliche Projekt abgeschlossen ist. Der Traum ist so heftig, dass Jakow erwacht, konsterniert, dass er an einem solchen Ort einfach geschlafen hat. Er fasst sich jedoch rasch und schliesst selbstbewusst einen dreisten Deal mit Gott: Wenn Gott ihm all das Versprochene wirklich zukommen lässt, dann soll dieser Gott sein Gott sein.

Er gelangt zu einem Brunnen, wo Schafherden auf die Tränke warten. So etwas kann Stunden dauern, eine gute Gelegenheit also, um mit Hirten und Hirtinnen ins Gespräch zu kommen und Erkundigungen einzuholen. Eine junge Hirtin stellt sich als seine Cousine vor, die nach der Klärung der Verwandtschaft den Vater Lawan, den Bruder von Jakows Mutter, holt. Es überrascht an der Stelle, wie alle Beteiligten zu ihm rennen. Der Besuch eines Familienmitglieds erscheint einfach als eine grosse Freude.

Auch Lawan rennt seinem Neffen entgegen, umarmt und küsst ihn und bringt ihn rasch in sein Haus (Gen 29:13 ff.). Und Jakow erzählt ihm «alle diese Begebenheiten». Von welchen Begebenheiten berichtet Jakow? Die Thora schweigt darüber. Dabei hätte es so vieles zu erzählen gegeben: wie es Rivka gehe; dass er rechtlich der Erstgeborene sei und entsprechend erben werde; dass sein Bruder ihn töten wolle, weshalb er auf der Flucht sei; auch dass er im heiratsfähigen Alter sei, und so weiter. Doch die Thora schweigt hier gänzlich – und lädt die Leser ein, zu spekulieren.

Lawans Reaktion ist nicht weniger rätselhaft. «Ja, du bist mein Bein und mein Fleisch», und als Nächstes erfahren wir, dass Jakow einen ganzen Monat im Haus des Onkels verweilt und sich dort offenbar nützlich macht, denn Lawan bietet ihm einen bezahlten Job an. Und so geht dann die Geschichte weiter. Knappe Texte sind oft lückenhaft und verlangen deshalb nach Auslegung. Was bedeuten die Umarmung und der Willkommenskuss von Lawan? Raschi knüpft bei Lawans Vergangenheit an. Bei der Brautwerbung um Rivka wurden die Konditionen in betrügerischer Weise immer wieder geändert. Lawans Reputation ist also a priori die eines Betrügers, und dem könnte sich Jakow anscheinend durchaus anpassen (!). Nach Raschi weiss Jakow also durchaus, dass er sich bei Lawan auf einem Minenfeld bewegt, seine Fluchtsituation spielt aber eine gewichtige Rolle. Lawan erinnert sich, dass Elieser damals umfangreiche Geschenke mitgebracht hatte, bei der Umarmung und beim Küssen galt es jetzt herauszufinden, ob es diesbezüglich beim neuen Familienbesuch etwas zu holen gäbe. Da aber Jakow völlig mittellos ankam, hatte Lawan keine andere Handhabe, als ihn aufgrund der Fluchtsituation aufzunehmen und aufgrund der Verwandtschaft willkommen zu heissen. All das ist positiv zu bewerten, obschon sich ein gewisser Argwohn einschleicht. Vielleicht vermutete Lawan schon, dass auch Jakow das Handwerk des Betrügens ganz gut kenne. Also nicht Freude über den Besuch des Neffen, sondern eine gezielte Warnung: «Ach so, von meinem Bein und Fleisch bist du!» Ach so, du bist einer von uns! Ach so, du bist genau wie wir! Dann pass mal besser auf dich auf!

Rabbiner Bea Wyler