«Die Wahrheit lieben bedeutet, die Leere zu ertragen und in der Folge den Tod anzunehmen. Die Wahrheit steht auf der Seite des Todes. Ohne ein Sich-Losreissen kann man die Wahrheit nicht mit ganzer Seele lieben.»
Simone Weil
«Eine Organspende kann ein Argument sein, sich für Suizidhilfe zu entscheiden», sagt der Titel des «Tagesanzeiger»-Artikels vom 20. Oktober. Und: «Die Zahl der Organspenden in der Schweiz liesse sich verdoppeln, wenn nach begleitetem Freitod Organe gespendet würden. Chancen und Risiken sollten jetzt diskutiert werden…»
Und ich fange mal damit an, dass der Endpunkt der Unmenschlichkeit in den Medien erreicht scheint. Aber lassen wir uns überraschen, mehr geht immer, lehrt uns der Kapitalismus. Der Artikel also beschäftigt sich mit dem Suizid älterer Personen, als ob es ein altersbedingtes Ausweiderecht gäbe. Egal ob Organe mit langer Laufzeit noch dazu taugen, sie in andere Menschen einzupflanzen, hat sich die Zahl der Suizide über 65-Jähriger in den letzten Jahren vervierfacht.
Wenn man nun als älterer Mensch noch etwas Gutes mit seinem Ableben tun kann, dann wird es die Zahl sicher weiter ansteigen lassen, ohne dass die Gesellschaft irgendetwas täte, um zu erforschen, was die Ursachen des Lebensüberdrusses sind, um sie schleunigst zu bekämpfen.
In unserem System wird die Mehrzahl der älteren Menschen nur mehr als Bremse des Fortschritts und des Wettbewerbs gelesen. Alte Menschen taugen zum Hüten der Grosskinder, wenn solche nicht vorhanden sind, sind viele eine Be-lastung der Renten und Sozialkassen. Neben Krankheiten oder dem Gefühl, nicht gebraucht zu werden, trägt das System, das auf Effektivität basiert, vermehrt zur Vereinsamung bei.
Das Verschwinden haptischer Begegnungsorte – Postfilialen, Banken, Läden, Kassen mit Menschen –, der galoppierende Digitalisierungsschwachsinn baut Orte ab, an denen Menschen sich treffen und dem Gefühl des Alleinseins entgehen können. Statt nun das Prinzip der Gewinnmaximierung zu hinterfragen, wird es auf den toten Körper, der aus der Gewinnmaximierung entstanden ist, ausgeweitet. Verwerten, was sich nicht schnell genug versteckt, effektiver und kostensparender machen, was nicht zum Wachstum beiträgt. Die Schweiz, die mir vor vielen Jahren als Oase der Menschlichkeit schien, verkommt zu einer neoliberalen Versuchsanstalt, die zu prüfen scheint, inwieweit es der Anwesenheit von Menschen bedarf.
Sibylle Berg ist deutsch-schweizerische Schriftstellerin und Dramatikerin. Sie lebt in Zürich
die literarische Kolumne
21. Nov 2025
Leere ertragen
Sibylle Berg