Talmud heute 26. Sep 2025

Israels Versöhnung

Die Tage zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur, gelten als Tage der Besinnung. Dabei ist der jüdische Mensch gemäss der Tradition eingeladen, sein Leben im Lichte geistiger Prinzipien und ethischer Werte des Judentums zu beleuchten und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Was für das Individuum gilt, gilt auch für die Nation. Die israelische Gesellschaft hat ein turbulentes Jahr hinter sich und spaltet sich gegenwärtig in zwei Lager: Eines sieht die Rückkehr aller israelischen Geiseln als oberstes Ziel, selbst wenn dies bedeuten sollte, die Hamas-Terroristen in Gaza an der Macht zu lassen. Das andere Lager sieht die Eliminierung der Hamas und die Bannung der Terrorgefahr aus Gaza als wichtigstes Gebot der Stunde. Beide Meinungen sind legitim und können sich auf verschiedene Quellen stützen. Das erste Lager kann die Mizwa von «pikuach nefesch», «Lebensrettung», welche im Judentum den allerhöchsten Stellenwert besitzt, geltend machen. Dazu kommt das wichtige Gebot von «pidjon schwujim», «Befreiung von Geiseln». Die Gegenseite kann ihrerseits diese beiden Argumente aus ihrer inneren Logik heraus schwächen. Was bringt die Lebensrettung von 20 unserer Brüder und Schwestern, wenn dadurch das Leben Tausender Bürger in Gefahr gebracht wird, zumal die Hamas ausdrücklich auf das Niederlegen der Waffen verzichtet und die Vernichtung Israels nach wie vor als ihr Hauptziel verfolgt? Hier nun kann das erste Lager mit folgender talmudischen Richtlinie dagegen argumentieren: «Bei einer sicheren Behauptung (‹bari›) und einer unsicheren (‹schema›) ist die sichere massgebend» (Ketubot 12b); die sofortige Befreiung der Geiseln aus ihrer Lebensgefahr («bari») überwiege demnach die eventuelle, zukünftige Gefahr seitens der Hamas («schema»). Hier jedoch könnte das zweite Lager behaupten, dass die erneute Bewaffnung und das Schmieden der nächsten Attacke gegen Israel für die Hamas-Terroristen eine durchaus «sichere» und leider keine «unsichere» Option ist, zumal sie dies öffentlich propagieren.

Was das zweite Hauptargument, jenes der Geiselbefreiung als oberstes Gebot, betrifft, bemerkt dazu bereits die Mischna, das Basiswerk der mündlichen jüdischen Lehre: «Man löse Geiseln nicht über ihren Wert aus, wegen des allgemeinen Wohls» (Gittin 4:6). Es würde dadurch nämlich ein Präzedenzfall geschaffen, da der Freikauf der Geiseln – im Mittelalter war es Geld, heute geht es um die Freilassung zahlreicher gefährlicher Terroristen – zweifellos zu weiteren Geiselnahmen animieren würde (Talmud Gittin 45a). So haben die israelischen Regierungen unter Golda Meir bei der Terrorattacke auf die israelischen Athleten bei den Olympischen Spielen in München 1972 sowie unter Jizchak Rabin bei der Flugzeugentführung nach Entebbe 1976 den Forderungen der Terroristen nicht nachgegeben. Es widerhallen Meirs Worte: «Dies ist Erpressung der schlimmsten Sorte. Wenn Israel den Forderungen der Terroristen nachgibt, ist kein Israeli und kein Jude auf der Welt mehr sicher.» Ihre Worte haben auch 53 Jahre, nachdem sie sie gesprochen hat, an Relevanz leider nichts eingebüsst.

Sowohl das Lager, welches die Befreiung der Geiseln, als auch das Lager, welches die Ausschaltung der Hamas als oberstes Kriegsziel verfolgt, ist legitim. Der Talmud (Eruvin 13b) beschreibt eine ähnliche Sachlage bei einer Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Schulen Hillel und Schammai: «Drei Jahre stritten die Schule Schammais und die Schule Hillels: eine sagte, die Halacha sei nach ihr zu entscheiden, und die andere sagte, die Halacha sei nach ihr zu entscheiden. Da ertönte eine göttliche Stimme und sprach: ‹Sowohl die Worte der einen als auch die Worte der anderen sind Worte des lebendigen Gottes› – jedoch ist die Halacha nach der Schule Hillels zu entscheiden.» Beide Meinungen sind legitim, beide fussen auf echten Argumentationen und sind daher «lebendig». Alles schön und gut, aber was tun? Schliesslich muss man sich ja irgendwann einmal für einen praktischen Weg entscheiden! Dazu bemerkt der Talmud, dass die Halacha, also die konkrete Religionspraxis, der Meinung Hillels folge. Weshalb wurde ihm diese Ehre beschert? Der Talmud stellt dieselbe Frage und erläutert sie: «Wenn aber die Worte der einen und der anderen Worte des lebendigen Gottes sind, weshalb war es der Schule Hillels beschieden, dass die Halacha nach ihr entschieden wurde? Weil sie verträglich und bescheiden war und sowohl ihre eigene Ansicht als auch die der Schule Schammais studierte; noch mehr, sie setzte sogar die Worte der Schule Schammais vor ihre eigenen.» Ich bin nicht naiv. Ich weiss sehr wohl, dass man diese kleine rabbinische Meinungsverschiedenheit im Lehrhaus nicht mit riesigen, schicksalhaften Fragen von Leben und Tod im Rahmen eines komplexen Krieges im Jahre 2025 vergleichen kann. Und doch will ich daraus etwas für Israels Debatte mitnehmen. Hillel bekam Recht, weil er die Gegenseite respektierte, weil er ihre Argumente seriös studierte, weil er ihren Ängsten Gehör schenkte und weil er immer zur Sache, jedoch nie laut und entehrend argumentierte. Die demokratisch gewählte israelische Regierung hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, alles zu tun, um die Sicherheit ihrer Bürger zu gewährleisten, selbst wenn dies tragischerweise bedeuten sollte, dass man das Überleben unserer Geiseln in den Händen barbarischer Terroristen nicht garantieren kann. Möge der Geist Hillels etwas zur innerjüdischen Versöhnung im Hinblick des anstehenden Jom Kippur beitragen.

Emanuel Cohn unterrichtet Film und Talmud und lebt in Jerusalem.

Emanuel Cohn