standpunkt 26. Sep 2025

Unerwartete Vorbereitung auf das Fasten

In den Quellen heisst es: «Am zehnten Tag dieses siebten Monats, dem Versöhnungstag, sollt ihr eine heilige Versammlung abhalten: Ihr sollt eure Seelen kasteien (…). Ihr sollt an diesem Tag keine Arbeit verrichten, denn es ist ein Versöhnungstag, an dem ihr euch vor dem Herrn, eurem Gott, rehabilitieren sollt (...). Vom Abend des neunten Tages des Monats an, von einem Abend bis zum nächsten, sollt ihr eure Arbeit ruhen lassen» (Levitikus 23, 27–32). So widmen wir jedes Jahr einen ganzen Tag unserer Wiedergutmachung vor dem Herrn. Überzeugt von der göttlichen Sühne für unsere Verfehlungen, sind wir aufgerufen, einen Tag unseres beruflichen Kalenders dem Fasten und Beten zu widmen. Die Wahl des zehnten Tages des Monats Tischri ist nicht zufällig. An diesem Tag stieg Moses vom Berg Sinai herab und hielt die zweiten Tafeln des Bundes in seinen Händen, Zeugnis der göttlichen Vergebung nach der Sünde des Goldenen Kalbs.

An Jom Kippur identifizieren wir uns mit unseren Vorfahren, in der Hoffnung, dass die Reue Israels erneut angenommen wird. Die Formulierung des Verses erfordert jedoch besondere Aufmerksamkeit. Die bekannte Regel der Thora lautet: «Es wurde Abend, es wurde Morgen» (Genesis 1,5). Das bedeutet, dass die Tage, sei es ein Wochentag, Schabbat oder Feiertag, am Abend nach dem Erscheinen der Sterne beginnen. Wenn die Thora das Datum eines bestimmten Festes angibt, bezieht sie sich immer auf den Beginn der Nacht. Wenn dies der Fall ist, scheinen die Worte «vom Abend des neunten Tages des Monats an» überflüssig zu sein. Nachdem der biblische Text das Fasten «am zehnten Tag des Monats» festgelegt hat, schien keine weitere Präzisierung notwendig zu sein! Die Gemara (Yoma 15b) unterstreicht diesen Punkt und leitet aus diesen Worten eine neue Lehre über die Bedeutung des Essens am Vorabend von Jom Kippur, dem neunten Tag des Monats Tischri, ab: «Wer am neunten Tag isst und trinkt, wird in der Schrift so betrachtet, als ob er am neunten und zehnten Tag fastete.»

Die Notwendigkeit, am Tag vor Jom Kippur zu essen, ist überraschend. An Jom Kippur gelten fünf Verbote: Essen und Trinken, sich reiben, sich waschen, Lederschuhe tragen und eheliche Beziehungen. Diese Verbote sollen uns von den Sorgen des Körpers und seinen materiellen Bedürfnissen ablenken, damit wir uns auf die Bedürfnisse der Seele konzentrieren können. In diesem Zusammenhang könnte man meinen, dass die angemessenste Vorbereitung auf Jom Kippur eine spirituelle Vorbereitung wäre, die von Reue und tiefem Bedauern geprägt ist. Können wir also das reichliche Essen als angemessene Vorbereitung auf diesen erhabenen Tag betrachten? Diese Verwirrung wird noch grösser, wenn wir lesen, dass die Meister der Halacha empfehlen, am Vorabend von Jom Kippur die Zeit für das Studium der Thora zu verkürzen, um zu essen und zu trinken. Es gibt zahlreiche Erklärungen für das obligatorische Mahl am Vorabend von Jom Kippur. Für manche besteht der Zweck des Essens am Vorabend darin, das Fasten am nächsten Tag zu erleichtern. Für andere hingegen ist es genau umgekehrt: Reichhaltiges Essen erschwert die Einhaltung des bevorstehenden Fastens. Der unmittelbare Übergang von reichhaltiger Ernährung zu vollständigem Fasten ist sehr beschwerlich, was dem Fasten seinen besonders grossen Wert verleiht, da die Belohnung proportional zur Anstrengung ist.

Rabbi Jona von Gerona (Spanien, 13. Jahrhundert) bietet eine andere Interpretation der Mizwa, am Vorabend von Jom Kippur zu essen. Tatsächlich ist Jom Kippur ein Tag, der Glück bringt, und «dieses Mahl ist ein greifbarer Ausdruck der Freude, die das Volk Israel angesichts des grossen Privilegs erfüllt, das ihm am nächsten Tag zuteilwird». Was für eine Freude! An diesem Tag gelingt es uns, uns von den Verunreinigungen zu befreien, die unsere Seele bedrücken. An diesem Tag umgibt ein Geist der Sühne und Reinheit die Welt. Wir reinigen uns und schaffen es mit göttlicher Hilfe, uns zu erneuern und zur göttlichen Quelle zurückzukehren. An einem solchen Tag, erklärt er, wäre es angemessen, wie an anderen jüdischen Feiertagen ein Mizwa-Mahl zu feiern, als Zeichen des Lobes und der Dankbarkeit gegenüber dem Schöpfer. Das Fasten hindert uns jedoch daran, dieses Mizwa-Mahl zu vollziehen, daher sind wir angehalten, es am Vortag zu feiern. Für Rabbenu Jona ist das Essen am Vorabend von Jom Kippur ein vorzeitiger Ersatz für das Mizwa-Mahl von Jom Kippur.

In seinem Werk Shem Mishmuel schlägt Rabbi Shmuel Bornstein (1855–1926), inspiriert von Psalm 45, vor, diesen Gedanken weiterzuführen. Dieser Psalm, der zu Ehren eines Königs geschrieben wurde, ist eine Parabel auf den Ruhm Gottes. Er beschwört die erhabenen Gefühle der jungen Mädchen herauf, die sich darauf vorbereiten, den Königspalast zu betreten: «Die Tochter des Königs ist in ihrem Inneren strahlend schön, ihr Gewand ist aus goldenem Stoff. Mit Stickereien verziert, wird sie zum König geführt, gefolgt von einer Schar junger Mädchen, ihren Gefährtinnen, die für dich herbeigeführt werden; mit Jubel und Frohlocken werden sie in den Palast des Königs geführt» (Verse 14–16). Nun können jedoch nicht alle ein solches Privileg geniessen. Man kann sich leicht vorstellen, wie die fröhlichen Mädchen von Jubel und Freude erfüllt sind. Diese immense Freude und dieses strahlende Glück sind durchaus nachvollziehbar. Rabbiner Bornstein macht jedoch darauf aufmerksam, dass die Freude nur in dem Moment erwähnt wird, in dem sich die Mädchen auf die Begegnung vorbereiten. Sobald sie den Palast betreten haben, kann man vernünftigerweise davon ausgehen, dass ihre Gesichter ernst sind und dass die Atmosphäre der Ehrfurcht ihre Schritte leitet, angesichts der Feierlichkeit des Augenblicks.

Diese Verse dienen als Vorlage, um die Besonderheit der Feierlichkeit von Jom Kippur zu beschreiben. Jom Kippur ist in Wirklichkeit ein Tag des langen Aufenthalts im Palast eines Königs. Gott hat die Tage des Jahres geschaffen und ihnen klare Gesetze zugeteilt. Ein Tag im Jahr unterliegt jedoch anderen, ihm eigenen Gesetzen: Jom Kippur. Dieser Tag, an dem niemand berechtigt ist, einen anklagenden Blick zu werfen, ist aussergewöhnlich. An diesem Tag umhüllt ein Geist der Reinheit die Welt, und das Wesen dieses Tages ist in vielerlei Hinsicht eine Sühne für die Kinder Israels. An diesem Tag wird Israel ein grosses Privileg gewährt, das ihm vorbehalten ist: Es betritt den Tempel des Königs des Universums, und diese ganz besondere Begegnung verwandelt es so sehr, dass es nicht mehr wiederzuerkennen ist. Für Rav Bornstein ist dies der Grund für die Vorschrift, am Vorabend von Jom Kippur zu essen. Dieses Mahl ist ein greifbarer Ausdruck der Freude, die das Volk Israel angesichts des grossen Privilegs erfüllt, das ihm am nächsten Tag zuteilwerden wird. Morgen, bei ihrer Begegnung mit dem König, werden die Ausdrucksformen der Freude verschwinden, denn eine Atmosphäre der Erhabenheit wird ganz natürlich die Herzen erfüllen. Der Vorabend der Begegnung selbst ist also der geeignetste Zeitpunkt, um diese Freude zum Ausdruck zu bringen.

Das Mahl am Vorabend von Jom Kippur erfüllt nicht nur Jom Kippur selbst, sondern auch jeden der zehn Tage der Teschuwa, die ihm vorausgehen, mit einem besonderen Licht. Gott wünscht sich unsere Nähe zu ihm und hat daher Tage für uns vorgesehen, die uns helfen sollen, unsere Taten zu reinigen und unsere Gedanken zu verfeinern. Diese Sichtweise lädt uns ein, diesen Tag nicht als Zeit der Reue und Busse zu betrachten. Ganz im Gegenteil, die Teschuwa, die Fähigkeit des Menschen, sich zu wandeln, ist ein Privileg, ein Geschenk der Vorsehung, das wir zu schätzen wissen müssen. Die Freude, mit der wir Jom Kippur begrüssen, hat dieselbe Kraft wie das Fasten selbst. Sie wird unsere Herzen mit Hoffnung und Zuversicht für ein Jahr voller Glück und Frieden erfüllen.

Lionel Elkaïm stammt aus Nizza und studierte an der Jeschiwa in Montreux und in Israel. Er war Kodech-Lehrer in Genf und Lausanne und von 2008 bis 2017 Rabbiner in Lausanne. Heute lebt er in Jerusalem und kommt regelmässig als Rabbiner nach Freiburg im Üechtland.

Lionel Elkaïm