sidra pinchas 18. Jul 2025

Der wichtigste Vers der Thora

Welches ist – Ihrer persönlichen Meinung nach – der wichtigste Vers in der Thora? Mir ist wohl bewusst, dass die Frage merkwürdig, wenn nicht gar absurd klingt. Doch kann es durchaus reizvoll sein, darüber nachzudenken, welcher biblische Vers am meisten umfasst. Immerhin haben sich schon einige Meister des Talmuds mit dieser Aufgabe beschäftigt. Was also kommt Ihnen spontan in den Sinn? Ich bin mir sicher, dass viele das «Schma» gewählt haben. «Höre Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist ein und einzig» ist das grosse Glaubensbekenntnis der Juden [vgl. Dtn 6,4]. Das ganze Judentum kann letztlich auf diese eine Grundüberzeugung zurückgeführt werden. Deswegen finden wir das «Schma» in den Schriftkapseln an den Türpfosten und in den Phylakterien. Juden rezitieren es vor dem Einschlafen und vor dem Tod. Andere haben sich vielleicht für einen anderen berühmten Spruch entschieden: «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.» [Lev 19,18] Rabbi Akiba etwa meinte, dieses sei das stärkste Prinzip der Thora und bilde das Fundament jüdischer Ethik [vgl. Gen Rab 24,7].

In der Einleitung zu «Ein Jakov», einer Sammlung aller Narrative des Talmuds, erzählt Rabbi Jakob ibn Habib (1460–1516) eine Anekdote über Rabbi Jehuda Hanassi, dem Redakteur der Mischna. Er soll eben diese Frage seinen drei bevorzugten Schülern gestellt haben. Ben Soma antwortete erwartungsgemäss mit dem «Schma». Rabbi Jehuda Hanassi lauschte und schwieg. Ben Asai legte sich auf die Nächstenliebe fest. Und wieder schwieg Rabbi Jehuda Hanassi. Schliesslich wagte der weitaus unbekanntere Ben Pasi einen neuen Versuch und wählte einen Vers aus unserem Wochenabschnitt, auf den ausser ihm wohl niemand sonst gekommen wäre. Zum Hintergrund: Unser Wochenabschnitt beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Opfern, die zu den Feiertagen dargebracht werden müssen. Nach dieser Aufzählung steht geschrieben: «Bringt [zusätzlich zu den spezifischen Opfern] ein Lamm jeden Morgen und ein Lamm jeden Abend dar.» [Num 28,4] Dies sei, so Ben Pasi, der allumfassendste Vers in der ganzen Thora. Diesmal erwiderte Rabbi Jehuda Hanassi: «Mit dieser Antwort bin ich einverstanden.» Uns bleibt die Verwunderung darüber, ob ihm tatsächlich Tieropfer wichtiger waren als die Lehre von einem Gott, und ob ihm rituelle Reinheit behutsamer erschien als Gerechtigkeit und Nächstenliebe. Dies allerdings würde so gar nicht zu dem Fürsten Jehuda passen, der dem jüdischen Volk beibrachte, es könne Gott auch nach der Zerstörung des Tempels und dem damit einhergehenden Schlussstrich unter die Opferungen dienen, und als gelehrter Philosoph im intensiven Dialog mit den römischen Intellektuellen stand, geachtet von den Weisen aller Völker. Weswegen also schätzte er jenen Vers mehr als das «Schma» und die Nächstenliebe?

Ich meine, dass Rabbi Jehuda Hanassi den Vers über die Opferungen der Schafe als Symbol verstand für etwas, was ihm wesentlicher erschien als das erhabene Dogma des Monotheismus und das unerreichte Programm der Nächstenliebe. Die Religiosität eines Menschen lässt sich auch daran erkennen, ob er seinem Glauben regelmässig und alltäglich Ausdruck verleiht. Tut er laufend Frommes, dann meint er Religion und nicht bloss schöne Worte. Die wirkliche Bestätigung, ob jemand nur fromm daherredet oder auch meint, was er sagt, besteht darin, ob er seinem Glauben jeden einzelnen Morgen und Abend Ausdruck verleiht. Gewiss ist das Bekenntnis zu einem Gott ein wichtiges Dogma, aber eben nur Dogma. «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst» ist ein wunderbares Programm, aber eben nur Programm. Wenn Religion uns verändern soll, dann dürfen wir ihr uns nicht nur in der Theorie verschreiben. Die Gebote der Thora wollen uns zu guten und schliesslich zu heiligen Menschen erziehen. Deswegen greift sie in unseren Alltag ein. Für das, woran wir glauben, müssen wir täglich Opfer bringen.

Einst hörte ich eine kuriose Geschichte, die sich so wahrscheinlich gar nie ereignet hat, aber unsere These wunderbar illustriert: Einst wohnte die Delegation eines wenig entwickelten Landes anlässlich eines UNOBesuches in einem Erstklassehotel in New York. Die Gesandten waren das erste Mal in der industrialisierten Welt und staunten über deren Errungenschaften wie Fernsehen oder Telefon. Besonders beeindruckt waren sie jedoch von den Wasserhähnen. «Zu Hause», so verkündeten sie ihren Gastgebern, «müssen wir meilenweit laufen und das Wasser in Eimern in unser Dorf schleppen.» Bei ihrer Abreise entdeckte der Hotelmanager, dass die Besucher sämtliche Wasserhähne in ihren Zimmern abgeschraubt hatten und mitgehen lassen wollten. Beschämt, aber doch geduldig erklärte er ihnen, dass die Wasserhähne kein Wasser spenden, dass es vielmehr eines ganzen Systems von Röhren und Anschlüssen bedürfe, damit aus ihnen Wasser fliesse.

Lächeln wir über die Naivität dieser Menschen? Oder gleichen wir ihnen in einigen Beziehungen auch? Oft genug besuchen wir Gottesdienste nur zu besonderen Anlässen, etwa bei wichtigen Feiertagen oder Familienfeiern, und meinen, «es funktioniere dann schon». Ich erinnere mich an so viele Eltern, die für ihre Söhne eine Bar Mizwa arrangieren wollten und mir als Lehrer unmissverständlich zu verstehen gaben, ich möge das Kind nicht überfordern. Mit ein paar wenigen Stunden müsse ich auskommen. Meist kann ich gegen solche Instantfeiern nichts ausrichten. Aber selbst die Thora wirkt nicht auf Knopfdruck. Wenn uns Religion helfen soll, muss es mit einem ganzen System von Taten und Gedanken verbunden sein. Moses gab kurz vor seinem Tod dem versammelten Volk die kürzeste und einfachste Definition von Religion: Seid fromm, «weil dies euer Leben ist» [Dtn 30,20]. Es ist nicht euer Hobby, nicht eine interessante Alternative, sondern euer Leben.

Nach einem seiner fulminanten Konzerte sprach ein Besucher den Violinisten Isaac Stern an und meinte: «Ich würde alles geben, um so spielen zu können wie Sie.» Gelassen antwortete Stern: «Auch zwölf Stunden Üben täglich?» Ben Pasi entschied sich für einen ausgefallenen Vers, doch können wir daraus viel lernen. Religiöses Leben erfordert Stärke, Ernsthaftigkeit und Regelmässigkeit. Gebet und Gottesdienst sind keine Angelegenheit von Laune. Gebote können nicht nur ausprobiert werden wie Kleider und, ob wir Thora lernen, darf nicht von Zufälligkeiten abhängen. «Bringt [zusätzlich zu den spezifischen Opfern] ein Lamm jeden Morgen und ein Lamm jeden Abend dar.» Oft genug haben wir diesen Vers überlesen. Dabei ist er tatsächlich richtungsweisend.

Michael Goldberger schrieb von 2001 bis 2012 Sidrabetrachtungen für tachles. Erschienen sind diese im Buch «Schwarzes Feuer auf weissem Feuer: Ein Blick zwischen die Zeilen der biblischen Wochenabschnitte», woraus dieser Text stammt.

Rabbiner Michael Goldberger