Israels Öffentlichkeit schaut kaum noch hin. Die Welt der Koalitionsparteien zwischen gewaltaffinen Verfechtern eines Großisraelsund gottgleicher rabbinischer Eigenmacht ist nicht die Welt der israelischen Normalos - zwischen steigenden Preisen und verlängertem Reservedienst. Israel der Staat wird zur Nebensache - zur dritten Welt.
Eine Koalition ohne inneres Vertrauen von Anfang an. Anstelle des Vertrauens traten Drohungen. Bezalel Smotrichs Einstufung Benjamin Netanjahus als „Lügensohn“ gleich zu Beginn dieser Koalition regte schon niemanden auf. Von Anfang an basierte der Zusammenhalt dieser Koalition auf der ständigen Alternative drohenden Auseinanderbrechens. Mit einem Programm, das auf jedes einzelne Glied in der Kette maßgeschneidert war. Wer nicht eingegliedert war, blieb außen vor.
Kein Politiker ist so an Umfragen orientiert wie Netanjahu. In Krisenzeiten werden sie ihm auch mehrmals täglich vorgelegt, berichten Berater aus vergangenen Zeiten. „Enge“ Berater, die sich schon längst entfremdet haben. Die New York Times zitierte letzte Woche ehemalige Beamte der Regierung Joe Bidens. Sie wiesen 2024 Netanjahu auf Umfragen hin, in denen 50 Prozent der Israelis einen Kompromiss zur Befreiung der Hamas-Geiseln befürworteten. Seine Antwort: „Das sind nicht 50 Prozent meiner Wähler.“
Auf Dauer werden Drohungen jedoch zu Gebärden. Die einen drohen mit Austritt, wenn der Krieg im Gazastreifen sein Ende finden sollte. Die anderen beharren auf das ihnen versprochene neue Rekrutierungsgesetz, das ihre jungen Schriftgelehrten von der Wehrpflicht befreien soll. Im Volksmund auch Drückeberger-Gesetz genannt. Versprochen noch vor dem 7. Oktober 2023 fordern sie die Einhaltung des Versprechens auch noch nach fast zwei Jahren Krieg.
Mitten im längsten Krieg Israels bemühte sich die Koalition weiter um eine Justiz“reform“, die das Volk spaltet. Ohne Rücksicht auf die Reservisten, die die Proteste gegen eine solche Einschränkung der Justiz anführten. Allen voran Piloten, die im Juni Angriffe gegen den Iran flogen. Nachdem sie im Vorjahr von den „Bibisten“ als Verräter und Meuterer beschimpft wurden. Von Ministern, die jetzt per Gesetz Zigtausende von der Wehrpflicht befreien wollen.
In den letzten Wochen zog die Regierung zwar gleich mehrere Gesetzesanträge zur „Reform“ zurück. Doch war der Grund dafür nicht die Wahrung der Einheit, sondern die wackelnde Koalitionsmehrheit. Bemühungen, die „Torwächter der Demokratie“ zu entmachten, gehen auch im chaotischen Koalitionsgeklüngel weiter.
So soll ein eigenmächtig aufgestellter Untersuchungsausschuss die Kündigung der Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara vorbereiten. Trotz richterlichen Einspruchs wollen Netanjahus „rechte Hände“ Generalmajor David Sinni zum neuen Geheimdienstchef ernennen. Nicht die Fähigkeiten Sinnis werden angezweifelt, sondern die Unfähigkeit Netanjahus und seiner Mitarbeiter ihn zu ernennen. Denn Netanjahu wie einige seinerMitarbeiter stehen unter Anklage. Sind also befangen im Sinne des Gesetzes. Deshalb versprach Netanjahu schon vor Jahren hoch und heilig vor Gericht, sich nicht in juristische Entscheidungen einzumischen. Erst danach ermöglichten die Richter die Wahlkandidatur eines strafrechtlich Angeklagten. Wie nannte SmotrichNetanjahu doch noch?
Unter Verdacht stehen auch einige seiner Mitarbeiter. Sie sollen für einen fremden Staat (Katar) gearbeitet haben - während sie gleichzeitig bei Israels Premier in Lohn und Brot standen. Und noch stehen. Auch sie sinddaher befangen und sollten nicht an der Ernennung des Geheimdienstschefs beteiligt sein. Ist dieser doch an den Ermittlungen gegen seine Auftraggeber beteiligt. Aber Netanjahus Umfeld ignoriert die Gerichte. Auch frühere Regierungen kritisierten lautstark ihnen ungenehme Richterurteile. Sie widersetzten sich ihnen aber nicht.
Israels Öffentlichkeit schaut kaum noch hin, wenn diese Regierung politisch handelt. Würde sie genauer hinblicken, gäbe es durchaus Entscheidungen, die nicht unbedingt abzulehnen sind. So kann die Ausweitung des militärischen Drucks auf die Hamas im Gazastreifen durchaus die Kompromissbereitschaft der Hamas beschleunigen. Doch beharrt die Regierung auf die „vollständige Zerstörung der Hamas“. Ein Ziel, das so illusionär ist wie die Kompromissbereitschaft „um jeden Preis“, wie sie von den Gegnern der Regierung gefordert wird. Für die Angehörigen der Geiseln ein Wechselbad zwischen Hoffnung und Verzweiflung.
Armeechef Eyal Samir sprach von weiteren zwei Monaten, in denen die Armee ihre selbst gesteckten Ziele im Gazastreifen erreichen kann. Zu diesen Zielen gehört nicht die „vollständige Zerstörung der Hamas“, sondern die weitgehende Absicherung Israels vor zukünftigen Angriffen aus dem Gazastreifen. Ein militärisches Ziel, das aber ohne politische Absicherung mit realistischen Plänen für die Zeit nach einem Kriegsende nicht erreicht werden kann. Diese Regierung aber vergeudet Zeit mit Plänen von einer Riviera in Gaza oder einer „humanitären Zeltstadt" für Gaza-Evakuierte, die so unerreichbar wie unbezahlbar ist.
Die Hamas wird ohne abgesichertes Kriegsende nicht auf ihre letzten Geiseln verzichten. Ihren letzten Trumpf in ihrem Überlebenskampf. Israels Regierung findet immer wieder eine neue Bedingung, die einen Aufschub der ersehnten Geiselfreilassungen rechtfertigen soll. Familienangehörige der Geiseln verzweifeln und warnen: „Jeder weitere Tag in den Tunnelkerkern ist lebensgefährlich.“ Doch die Erklärungen aus dem Amtssitz für die ständigen Verzögerungen lassen sie noch mehr verzweifeln.
Rabbi Elchanan Danino flüchtete an die Öffentlichkeit. Der Vater von Uri Danino, der im Hamas-Kerker ermordet wurde, sprach 2024 persönlich mit dem Premier, den er selbst immer wieder gewählt hat. Seine Vorwürfe waren hart. Netanjahu habe Gelegenheiten zu einem Austausch-Deal ungenutzt verstreichen lassen. Und: „Sie haben die Tunnel finanziert, in denen mein Sohn ermordet wurde.“ Letzte Woche zitierte er einen „hochrangigen Mitarbeiter“ des Premiers, der ihm vor dem Treffen ungerührt mitteilte, dass die Geiseln politisch vernachlässigt werden können: „Ich kann auch noch 200 weitere trauernde Familien ertragen.“
Die politische Leere dieser Regierung steht nicht allein. Neben ihr findet sich ein politischer Hohlraum, der den Anspruch erhebt, Opposition zu sein. Wobei die Unterscheidung zwischen Links und Rechts in Israel schon lange veraltet ist. Allenfalls ist noch zwischen „Mitte-Rechts“ und „Rechts-Mitte“ zu unterscheiden. Beim juristisch aussichtslosen, aber in den Netzwerken Likes eintreibenden Versuch, einem arabischen Abgeordneten das Mandat zu entziehen, zeigten auch mehrere "Mitte"-Abgeordnete, dass sie "liberal" nicht buchstabieren können.
Erneuerungsversuche in den Reihen der Sozialdemokraten zeigten bislang nur mäßigen Erfolg. Israels politische Bühne wird von ständig wechselnden Persönlichkeiten belebt, die allenfalls am guten Aussehen und einem allgemein verständlichen Charisma zu erkennen sind. „Der nächste Kandidat bitte.“
Zumindest in letzten Umfragen werden einem noch nicht zusammengestellten Duo mit Ex-Premier Naftali Bennett und Ex-Armeechef Gadi Eisenkoth verbesserte Chancen als Herausforderer Netanjahus eingeräumt. Wenn sie sich zusammentun. Israels Politik als physikalische Besonderheit: Ein Vakuum, das sich nicht füllt.
Wie es aussieht, kann Netanjahu fürs Erste sein Zwischenziel erreichen. Die parlamentarischen Sommerferien. Ab Anfang August mit einem leeren Plenum, in dem sich leere Drohungen ungefährlich entfalten können. In dem die Abgeordneten aber einiges zu tun haben: Kaum saßen die Koalitionspartner nicht mehr auf der Regierungsbank, da drängten sichauch schon bislang beim Gerangel um Regierungsjobsleer ausgegangene Likud-Abgeordnete um die leeren Sitze. Die zuverlässigste Konstante dieser Regierung bleibt eben die Leere.