Letzten Sonntag fand das Finale in Wimbledon statt, das bedeutendste Tennisturnier des Jahres. Im Gegensatz zu früher, als ich auf dem Bildschirm als eingefleischter Fan das Geschehen auf dem Londoner Rasen verfolgte, war mir diesmal das Spiel und dessen Ausgang gleichgültig. Der Grund ist einfach und hat sieben Buchstaben: Federer. Als dieser noch aktiver Teil des Tennissports war, verpasste ich keinen Halbfinal, geschweige denn Final, von Roger, sei es bei den Grand Slams in Melbourne, Paris, New York und natürlich Wimbledon, sei es bei kleineren Turnieren. Wie viele Tage und Nächte fieberte ich mit meinen Eltern, Geschwistern und Kindern vor dem Fernseher, als «unser» Rogi einen weiteren legendären Kampf gegen seine ewigen Rivalen Rafael Nadal oder Novak Djokovic bestritt! Wie litten wir doch bei jedem Break, das er kassierte, wie freuten wir uns bei jedem Smash, der ihm gelang, wie jubelten wir bei jedem Pokal, den er nach erfolgreicher Mission in die Höhe stemmte! Federer war Teil unseres Lebens, und da seine Aktivkarriere auf höchstem Niveau über zwei Jahrzehnte umfasste, ein beträchtlicher Teil davon. Dazu kam die Tatsache, dass er als Basler und stolzer FCB-Fan weitere biographische Elemente mit uns teilte, die unser Zusammengehörigkeitsgefühl und unsere Verbindung mit ihm vertiefte. Nachdem Roger 2022 seinen Tennisschläger an den Nagel gehängt hatte, schrumpfte mein Interesse an diesem Sport beträchtlich.
Wie lässt sich mein veränderter Bezug zum Tennissport erklären? Wieso gibt es bei mir und bei anderen Menschen eine solche Diskrepanz zwischen der «Ära Federer» und der Ära danach? Wer dieses Phänomen am treffendsten beschrieb, war meines Erachtens Antoine de Saint-Exupéry in seinem wunderschönen Buch «Der kleine Prinz»: «Der kleine Prinz ging sich noch einmal die Rosen ansehen. Ihr seht meiner Rose überhaupt nicht ähnlich, ihr taugt rein gar nichts, sagte er ihnen. Niemand hat euch gezähmt und ihr habt niemanden gezähmt… Und die Rosen waren sehr verlegen. Ihr seid schön, aber ihr seid leer, sagte er ihnen noch. (…) Natürlich, könnte Irgendwer im Vorbeilaufen glauben, dass meine Rose euch ähnlich sieht. Aber sie selbst kann sich viel wichtiger nehmen als ihr alle, weil sie es ist, die ich gegossen habe. Weil sie es ist, die ich unter die Glasglocke gestellt habe. Weil sie es ist, die ich mit dem Wandschirm geschützt habe. Weil sie es ist, deren Raupen ich aufgelesen habe. Weil sie es ist, die ich klagen hörte oder prahlen oder manchmal sogar schweigen. Weil es meine Rose ist. (…) Es ist die Zeit, die ich für meine Rose geopfert habe, die sie so bedeutsam macht.»
Federer war für mich meine Rose, mein Beziehungspunkt zum Tennissport. Ich war zwar nicht sein Trainer, aber ich investierte in ihn viele Gedanken und Gefühle, Ängste und Träume, und viel Zeit. Als meine Rose verwelkte, das heisst als Federer die Tennisbühne verliess, hatte ich keinen persönlichen Bezug mehr zu den anderen Blumen. Also verschwanden mein Enthusiasmus und mein Interesse, ich begoss die Blumen nicht mehr und sie verdorrten.
Vielleicht hält es sich ähnlich mit dem Glauben? Wie ist unsere Beziehung zu unserem Schöpfer? Maimonides öffnet sein Monumentalwerk «Mischne Thora» mit folgender Weisung: «Der Grund aller Grundsätze und die Stütze alles Wissens besteht in der Überzeugung, dass es ein Urwesen gibt, welches alle Geschöpfe hervorbringt, und dass bloss durch die Wahrheit seines Daseins die Existenz aller Geschöpfe im Himmel und auf der Erde, und derjenigen zwischen Himmel und Erde, möglich ist» (Hilchot Jessode haThora 1:1). Das Erkennen Gottes als Schöpfer der Erde und Quelle allen Seins ist grandios und angsteinflössend, aber nicht persönlich. Wenn ich Gott als «Urgrund allen Lebens» erfahre, empfinde ich ihn vielleicht als distanzierten «König», nicht aber als nahen, liebenden und sorgenden Vater. Gerade der Chassidismus betonte, im Gegensatz zur klassischen jüdischen Anschauung, welche eine intellektuelle Verbindung mit Gott durch das Thorastudium vorsah, die Wichtigkeit der Emotionen im religiösen Leben und im Aufbau einer persönlichen Beziehung zu Gott. Insbesondere Rabbi Nachman von Bratzlaw (1772–1810) riet, tagtäglich in unserer Muttersprache und nicht ausschliesslich durch vorgeschriebene hebräische Gebetstexte mit unserem Schöpfer zu kommunizieren. Er empfiehl sogar, sich regelmässig in einem Wald zurückzuziehen («hitbodedut») und frisch von der Leber zu unserem «Tatten», unserem Vater im Himmel, hinaufzuschreien und unseren Emotionen und Frustrationen freien Lauf zu lassen.
Die zentrale Wichtigkeit des persönlichen Inputs äussert sich nicht nur in der Beziehung mit Gott, sondern auch mit seiner Lehre. So heisst es in der Mischna: «Nach der Mühe der Lohn!» (Awot 5:26). Je mehr Zeit, Energie oder Geld ein Mensch in das Thorastudium oder das Einhalten eines Gebotes investiere, desto grösser sei sein Lohn. Damit kann ein geistiger Lohn in der zukünftigen Welt gemeint sein, oder auch der Lohn seiner inneren Befriedigung im Jetzt. In einer weiteren Mischna heisst es: «Wer auch nur ein Gebot erfüllt, dem wird Gutes zuteil; sein Leben wird verlängert, und er erbt das Land» (Kidduschin 1:10). So gab es Gerechte, die sich eine spezifische Mizwa auferlegten, die sie mit ganzer Kraft, mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele zu erfüllen versuchten – damit sie wenigstens auf ein Gebot hinweisen konnten, es mit reiner Absicht und ohne jegliche Voreingenommenheit erfüllt zu haben. Gebt mir ein einziges Gebot, einen archimedischen Punkt, eine Rose!
Ich werde meine Liebe zum Tennis erst wiederfinden, wenn ich mich entschliesse, eine neue Blume zu begiessen und zu pflegen sowie ihr Wachstum und ihre Schönheit mit Bewunderung und Zuneigung zu verfolgen. Bis dann werde ich den Wimbledon-Finals weiterhin apathisch entgegenblicken und mich wehmütig an meine Rose namens Federer erinnern.
Emanuel Cohn unterrichtet Film und Talmud und lebt in Jerusalem.
Talmud heute
18. Jul 2025
Roger Federer, meine Rose
Emanuel Cohn