Tirana, August 2022. Nach Westen zum Mittelmeer ist das Land flach. Die Hügel vor Tirana sind grün, hinter der Hauptstadt strahlen die hohen Berge in der Sonne. Jene Berge, die der falsche Messias Schabtai Zvi überqueren musste auf seinem Weg ins albanische Exil. Es ist ein heisser wolkenfreier Tag. Die Strassen vom Flughafen in alle Richtungen überfüllt und rasch offenbaren sich bei der Überfahrt von Tirana nach Durrës an der Westküste Geschichte und Ambivalenzen. Da moderne Firmengebäude, neue Hotelanlagen, dort sozialistische Bauten und Hundertausende Bunkeranlagen aus der Zeit des Kommunismus mit ihren paranoiden Ditktatoren. Albanien liegt mitten in Europa zwischen Montenegro, Kosovo, Mazedonien, Griechenland, an der Küste Italien im Blick. Der Grenzeinlass geht nur mit Reisepass, Visa-Bestimmungen allerdings wurden gelockert. Albanien gilt als eines der ärmsten Länder der Welt und strotzt es vor Vitalität, Innovation und Offenheit. Die einstige totalitäre Diktatur ist Nato-Mitglied, der Antrag auf EU-Mitgliedschaft ist hängig. 1967 hat der Diktator Enver Hoxha Albanien zum ersten atheistischen Staat der Welt ausgerufen und ein brutales totalitäres Regime etabliert. Die Despoten Stalin, Tito, Mao waren seine Allianzpartner – doch mit allen brach er irgendwann und isolierte Albanien total. 1990 der Aufbruch in die Freiheit – in die schwere Freiheit. Liberalisierung, Kapitalismus waren nicht nur Segen. Heute lebt rund ein Drittel der Albaner im Ausland. Die Inflation und Währungsabschwächungen haben den albanischen Lek noch stärker getroffen. Doch irgendwie sind Pandemie-, Wirtschafts-, Energie- und Ukraine-Krisen weit weg und Normalität geworden. Präsenter ist die Vergangenheit, die Ambivalenzen in diesem einst mehrheitlich muslimischen Land. Besetzt vom faschistischen Italien und dann dem nationalsozialistischen Deutschland hat Albanien ihre romaniotischen Juden beschützt, gerettet und nicht verraten, wie viele andere europäische Länder. Jüdinnen und Juden waren seit Jahrhunderten in Albanien. Eine kleine Gemeinde, Teil der albanischen Gemeinschaft und eben nicht die fremden Anderen. Ausländische Juden mussten sich während des Holocaust verstecken. Zwei jüdische Familien wurden aus Albanien in Konzentrationslager deportiert – ein Teil von ihnen überlebte. Ansonsten keine Transporte von Juden aus Albanien und auch keine Konzentrationslager in Albanien. Albanien war das einzige der von den Deutschen besetzten Länder, in dem am Ende des Kriegs mehr Juden als zu Beginn lebten. Nach dem Krieg sind viele aufgebrochen nach Israel. Was sich für Besucherinnen und Besucher als Widersprüche auftut, sind vielleicht keine oder nur solche mit westeuropäischer Sozialisation – mit dem oft verquerten Blick zwischen angeführten Werten bei gleichzeitigen gesellschaftlichen Verwerfungen und Populismus gerade im Umgang der sogenannten Osterweiterung des politischen Europas. In der Schweiz sind Albanerinnen und Albaner auch aus dem Kosovo mittlerweile die grösste Einwanderungsgemeinschaft. 1991 gingen die Bilder um die Welt, als der albanische Frachter Vlora mit bis zu 20 000 Flüchtlingen im Zuge der albanischen Massenflucht nach dem Fall des Regimes über die Adria im italienischen Bari anlegen wollte. Es war eine Art europäischer Exodus, endete mit dramatischen Szenen, tagelangen Verhandlungen mit Behörden. Der Frachter, die Menschen wurden zurückgesendet in den Hafen von Durrës, die Bilder blieben. Heute liegen im Hafen riesige Fähren vor Anker, am Horizont die hüglige Küste Apuliens im Blick. Südlich des Hafens liegt Berat, wo Schabtai Zvi am Ufer des Flusses Osum beerdigt worden sein soll. Heute sollen in Albanien noch rund 50 Jüdinnen und Juden leben. Im Jahre 2010 ist in Tirana ein jüdisches Zentrum mit Synagoge eröffnet worden unter der Verantwortung eines Rabbiners von Thessaloniki. Die Synagoge wurde nach Meinungsverschiedenheiten infolge der Ernennung des Rabbiners Yoel Kaplan, von und durch die Chabad-Bewegung, durch die Regierung aber bald wieder geschlossen. Zwei Jahre später eröffnete Israel in Tirana eine Botschaft. 2017 wurde die albanische Gemeinschaft Mitglied des Jüdischen Weltkongresses. In Berat wurde Ende 2019 ein kleines Privatmuseum zu den Juden in Albanien eröffnet, dann aber bald wieder mangels Finanzen geschlossen.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
12. Aug 2022
Zwischen Exil und Diaspora
Yves Kugelmann