das jüdische logbuch 02. Jun 2023

Wiedergefundene Zeit

L’Isle-sur-la-Sorgue, Juni 2023. Das Haus inmitten von Feldern und Bäumen in der Provence sieht noch aus wie zu jener Zeit, in der Albert Camus in den 1950er Jahren immer wieder in den Ferien dort abgestiegen ist, später durch die Freundschaft mit dem Dichter René Char in die Region zog. Camus’ Midi liegt auch an diesem Frühlingstag in der brennenden Sonne. Die Natur spriesst nach tagelangem Regen in der Region. Der grösste Platz im Dorf, heute ein Parkplatz, heisst Place de la Juiverie. Der Platz erstreckt sich über eine Fläche von etwa einem Hektar. Er war durch zwei Tore im Osten zugänglich. Das Leben der Gemeinde war um den zentralen Platz herum organisiert, auf dem sich die wirtschaftlichen Aktivitäten konzentrierten, die hauptsächlich auf die Textilindustrie ausgerichtet waren. Die Häuser konnten vier oder sogar fünf Stockwerke hoch sein, um den kostbar gewordenen Raum optimal zu nutzen, und erinnert an das alte Ghetto von Venedig. Es gab eine Synagoge, eine Mikwa, einen Friedhof. Jüdische Familien wohnten seit dem 13. Jahrhundert in der Stadt, die zu den päpstlichen Besitzungen in der Provence gehörte. Seit dem 17. Jahrhundert mussten sie im Carriero, einem ummauerten Judenviertel wohnen, dessen Tore abends verschlossen wurden Die Synagoge wurde bei Unruhen nach der französischen Revolution beschädigt und 1856 abgerissen. Überreste des Friedhofs liegen ausserhalb der Stadt. Einer von unzähligen Orten mit jüdischen Spuren in der Region Avignon, Carpentras bis Aix-en-Provence, die vom 13. Jahrhundert bis zur Französischen Revolution im päpstlichen Besitz war und in dieser Zeit zum Zufluchtsort für Juden wurde. Unter dem Vichy-Regime wurden mehrere jüdische Bürger zunächst in Arbeitslager, dann nach den Razzien in der unbesetzten Zone über die Internierungslager Les Milles und Drancy bei Paris im Herbst 1942 den deutschen Besatzern übergeben und von ihnen in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Fast niemand überlebte. 1943 wurde etwa der bei der Fabrik Moulin Premier tätige Chemieingenieur Abram-Jacques Weiss von der SS verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo er am 25. Januar 1945 ums Leben kam. Der Erste und Zweite Weltkrieg ist in den Dörfern überall noch in Gedenktafeln präsent. Oft liegen frische Blumen darunter. Einzelne Tafeln erinnern an die jüdischen Opfer. Das Dorf liegt auf einer Insel an zwei Flussverzweigungen der Sorgue – daher der Name in der Übersetzung «Insel auf der Sorge». An Wochenenden strömen jeweils die Menschen von weither zu Antiquitäten- und anderen Märkten. Auf der Fahrt durch die Region liegt mitten in der Provence die Gedenkstätte «Camps des Milles» mit einer beeindruckenden Darstellung Frankreichs und der Region im Zweiten Weltkrieg. Das Internierungslager wurde im Spätsommer 1939 von den Franzosen für «étrangers indésirables» («unerwünschte Ausländer») angelegt und unter dem Vichy-Regime als Deportationslager für Juden genutzt. Lion Feuchtwanger, Max Ernst, Golo Mann, Franzel Hessel oder Karl Wilczynski gehörten zu den Gefangenen. An diesem Abend im Garten des Ferienwohnhaus von Camus, trifft die Nachricht von der Auszeichnung des Films «Zone of Interest» von Jonathan Glazer (tachles online berichtete) ein. Das Drama erzählt von Auschwitz-Kommandant Rudolf Höss und wie er und seine Frau Hedwig in einem Haus mit Garten neben dem Lager ein Traumleben für ihre Familie aufbauen. Die wahre Geschichte wurde bereits in einer Szene in «Schindlers Liste» dargestellt. Glazer hat sie zu einem in jeder Hinsicht beeindruckenden Film ausgebaut. Es ist dunkel geworden. Viele Gäste sind auf der Durchreise vom Filmfestival zurück und treffen sich mit befreundeten Produzenten. Der Gastgeber hat so zu einem Frühjahrsfest geladen. er ist selbst ein erfolgreicher Produzent, der immer wieder engagierte Filme mit jüdischen Stoffen produzierte, und läuft auf zwei jüdischen Produzenten zu und sagt ironisch: «Jetzt habe ich so viele Freunde eingeladen und ihr zwei Juden bleibt unter euch.» Zeitgleich sagen beide: «Wo ist der andere?» Effektiv sollte es noch andere jüdische Gäste haben. So etwa einen österreichischen Filmemacher. Vater Jude, Mutter nicht jüdisch. Ein Grossteil seiner Familie ist im Holocaust umgekommen, sein betagter Vater ist Mitglied in der jüdischen Gemeinde. Er und seine Kinder nicht. Er selbst war im Hashomer Hatzair, begeht die jüdischen Feiertage. Eine engagierte jüdische Familie, die keine ist – in den Augen der anderen. Und so ziehen sich die Gespräche durch die Nacht. Glazers Film wird verhandelt und die Entscheidung der Jury gelobt. Ein wichtiger Film in diesen Zeiten, in denen Erinnerung, historische Transmission und Krieg wieder nach oben gespült und sehr präsent werden. So auch das Zitat der von Albert Camus in der «Pest»: «Aber was sind hundert Millionen Tote? Wenn man den Krieg mitgemacht hat, weiss man kaum, was ein Toter überhaupt ist. Und da ein toter Mensch nur von Bedeutung ist, wenn man ihn tot gesehen hat, sind hundert Millionen über die Geschichte verstreute Leichen in der Vorstellung nur Rauch.» Vieles ist verblasst, doch die Mahnmale bleiben und Filme erzählen die Geschichten dahinter. Am nächsten Morgen sitzt ein älterer Herr im Café France. Bei Kaffee und Zigarette liest er Henri Raczymows «L’arrière-saison des lucioles». Der Autor ist Sohn polnisch-jüdischer Widerstandskämpfer und Immigranten. Im Buch wird sich der Autor vergangenen Zeit bewusst. Er nimmt die Leserschaft mit auf einen Streifzug durch die literarische Welt, mit einem flotten Stil, in dem jede Anekdote ein Stück vergessene Literatur wieder aufleben lässt. Der Proust-Spezialist präsentiert eine Art Suche nach einer verlorenen Zeit. Wie die Reisen durch die Provence immer wieder die verlorene Zeit eines ganzen Jahrhunderts in Erinnerung rufen.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann