Basel, September 2025. Das neu renovierte Basler Stadtcasino strahlt im Spätsommerschein, Musik vom Jugendkulturfestival belebt den friedlichen späten Nachmittag und kontrastiert mit den Schlagzeilen auf dem grossen Newsticker am Basler Barfüsserplatz. Der Gaza-Krieg, die Debatten um Israel sind wieder Hauptschlagzeile, vis-à-vis des ersten jüdischen Parlaments der modernen Geschichte, den Zionistenkongressen. Begriffe wandeln sich – oder werden gewandelt. Sie werden gebraucht oder missbraucht, oft verlieren sie ihre Klarheit. Sie stehen zwischen dem, was gehört, gesagt, vergessen oder eigentlich eingebracht werden soll. Ganz spezifische Begriffe mit ihrer DNA lösen sich von ihrem Ursprung, werden Kampfbegriffe oder leere Chiffren – bewusst oder unbewusst. Gerade in Gesellschaften des freien Wortes ist Sprache mehr und mehr zur Munition der waffenlosen Armeen im Netz geworden, bei Propaganda- oder auch ganz regulären Kommunikationsabteilungen.
Genozid, Antisemitismus oder Zionismus sind solche Wörter. Ihnen wurde oft jeglicher ursprüngliche Inhalt genommen – von denen, an die sie sich richteten, und von jenen, die sie im wahrsten Sinne des Wortes gebrauchen: Politiker, Journalisten, Aktivisten. Ein ernsthaftes Interesse an einer Rückführung der Wörter gibt es kaum. Daraus entsteht die Frage: Was geschieht mit der Beliebigkeit der Begriffe, die einem Markt und nicht mehr einer Kompetenz folgen? Helfen Fremdwörter zur Benennung der Dinge? Soll Genozid zu Völkermord werden, Antisemitismus zu Judenfeindschaft, Zionismus zur jüdischen Nationalbewegung – der Holocaust zur industriellen Massenvernichtung der Juden?
Als Theodor Herzl den «Judenstaat» schrieb, stellte er klar, dass er nicht über das Israel schrieb, das Binyamin Netanyahu und seine Vorgänger daraus gemacht haben. In «Altneuland» formulierte er: «Wir wollen in dem neuen Land nicht nur frei sein, sondern auch gerecht.» Freiheit und Gerechtigkeit sind zur Herausforderung der Gegenwart geworden – weit über Israel hinaus. Spätestens seit den Angriffen Israels auf Doha fragen sich selbst konservative, zionistische Teile der jüdischen und israelischen Gemeinschaft: Wohin führt das alles? Welchen Zionismus fordert die israelische Regierung ein? Welchen Antisemitismus bekämpfen Lobbyisten? Und wo bleibt die Integrität im Umgang mit den Fragen rund um Genozid? In wessen Namen, mit welchem Ziel, tut da wer was?
Der ehemalige Refusnik und israelische Minister Natan Scharanski forderte einst ein Diasporaparlament. Längst ist der Begriff Diaspora herabwürdigend ideologisiert, doch die Frage gewinnt Aktualität: Denn zwischen Juden und Israel wird kaum noch unterschieden, weder von Antisemiten, Antizionisten noch von jüdischen Funktionären.
Herzl formulierte in seiner manifesten Schrift «Altneuland» die utopische Formel: «Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.» Über 130 Jahre später muss die Realität sich Herzls Märchen zurückerobern – und sich von den bösen Geistern lösen, die in Märchen traditionell das Happy End infrage stellen. Das beginnt mit neuen Worten. Sonst wird Jean-Paul Sartre recht behalten: «Worte sind geladene Pistolen.»
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
12. Sep 2025
Wenn ihr wollt, ist es ein Märchen
Yves Kugelmann