Paris, Oktober 2025. Der Terminus «Diasporajuden» ist seit Jahrzehnten zum Standard in der Unterscheidung zwischen Jüdinnen und Juden in und ausserhalb Israels geworden – und inzwischen auch längst zu einem abwertenden Kampbegriff, der gerade von israelischen Politikern immer wieder in Abwertung der jüdischen Gemeinschaften weltweit ins Feld geführt wurde. Er definiert aus deren Sicht eine Asymmetrie und hat stets verhindert, dass sich die jüdischen Gemeinschaften in und ausserhalb Israels auf Augenhöhe begegnen – unabhängig von der Frage, wie sie jeweils zu Zionismus, Israel oder Judentum stehen.An diesem Abend sitzen im Café der israelische Kulturschaffende und sein Sohn. Der 20-Jährige besucht die Modefotografie-Schule in Paris. Er ist hoch talentiert und sagt nach vier Monaten Paris: «Ich bin endlich zu Hause angekommen.» Der Vater wollte Israel schon lange verlassen. Doch seine bald 100-jährige Mutter, die Solidarität mit der Familie und die noch jüngere Tochter haben ihn daran gehindert. «Schau», sagt er, «ich brauche keinen Plan B, denn Israel, unser Plan A, war eine Illusion.»Er hat seine Verdienste in der israelischen Armee und Gesellschaft. Sein Lebensraum ist Israel durch und durch. «Ich habe mir meinen polnischen Pass zurückgeholt. Europa ist definitiv meine Zukunft.» Abseits der ideologischen Debatten sprechen die Zahlen eine klare Sprache: Die Auswanderung aus Israel hat einen neuen Höchststand erreicht (vgl. tachles 42/2025). Und die allseits diskutierte Frage nach dem «Plan B» findet in Israel und dem Rest der Welt mit unterschiedlichen Vorzeichen statt. Israelis planen die Auswanderung, viele Jüdinnen und Juden in Europa liebäugeln mit der Auswanderung nach Israel, nachdem der lang gehegte amerikanische Plan B unter Trump keine Option mehr ist.Das von der israelischen Regierung als «antisemitisch» abgewertete Europa hält Israelis nicht ab. Der junge Fotostudent sagt: «Natürlich weiss ich um den Rechtspopulismus in Europa, und ich habe die Manifestationen gegen Israels Kriegspolitik hautnah miterlebt.» Dann fragt er: «Wie viel Prozent davon ist Antisemitismus? Ich selbst vertrete die gleichen Positionen und bin daher nicht mehr in Israel.» Der Vater hört zu: «Ich habe all diese Entwicklungen über Jahre befürchtet und immer gehofft, dass Israel diesen Weg nicht einschlagen würde.»Am Tisch nebenan meldet sich auf einmal ein junger Mann: «Seid ihr jüdisch?» Der 34-Jährige kommt aus Kanada, aus einer jüdischen Familie. «Ich überlege mir, nach Paris auszuwandern.» Das Gespräch wird noch bis tief in die Nacht dauern. Die drei erzählen von ermordeten Freunden nach dem 7. Oktober, gefallenen Soldaten in der Familie, ideologischen Streitigkeiten in Israels Gesellschaft. Und am Schluss geht es vor allem um eines: Wo ist normales jüdisches Leben möglich, in dem der Alltag abseits von politischen Grabenkämpfen, Judenhass oder Israel-Debatte in Freiheit möglich ist? Jede und jeder findet seine eigene Antwort.
Das jüdische logbuch
23. Okt 2025
Plan B Diaspora
Yves Kugelmann