das jüdische logbuch 06. Sep 2024

Von Reeh zu Schoftim

Berlin, September 2024. Die aktuellen Wochenabschnitte fangen die Gegenwart mehr ein, als vielen lieb sein kann. Zwischen Gesetz und Fluch, Gottes- oder laizistischem Staat, ja zwischen Königreich oder vielleicht sogar einer säkularen Thora navigiert Moses im Diskurs mit dem Göttlichen durch alle Widersprüche, die sich in Reeh und Schoftim darstellen. Mit dem Schmitta-Jahr und seinem Schuldenerlass, der Etablierung der Gerichtsbarkeit, dem Zehntel für Arme, Kriegsethik, dem Verweis auf 36 Gerechte wird eine jüdische Ethik ebenso formuliert wie Drohungen bei Fehlverhalten, Forderung nach Gehorsam, die Warnung vor Götzendienst oder falschen Propheten, die getötet werden sollen. Moses steht am Scheideweg zwischen totalitärer Autokratie, Selbstjustiz, Gottesstaat und der Möglichkeit zur Laizität, zur Gerichtsbar- anstatt Göttlichkeit, wie Israel heute inmitten der Kriegswirren Gefahr läuft, von der «einzigen Demokratie im Nahen Osten» zur illiberalen, nationalistisch-religiösen Autokratie zu verkommen, die mit einem biblisch inspirierten Königskult das «Heilige Land» über die Menschen stellt, die darin leben. Die immensen Herausforderungen zwischen Krieg, Geiseln, Protesten, Gewerkschaftsstreik, gesellschaftlichen Verwerfungen, Hunderttausender vertriebener Israeli und Palästinenser, Terrorismus und Gewalt stellen sich wie jene biblischen Tragödien in den Mythen dar – doch sie sind Realität und vermengen sich immer mehr mit dem archaischen Teil der alten Texte. Netanyahu spricht wie der drohende Gott, während viele Rabbiner dieser Tage in Widerstand treten, Israels Regierung offen entgegentreten und für das Leben eintreten. In Berlin indessen tobt die Debatte nach den Landtagswahlen von Thüringen und Sachsen. Die AfD hat Deutschland übernommen. Es sind weniger die Resultate der Wahlen in den beiden ostdeutschen Bundesländern, die sich in den kommenden Wochen wieder relativieren werden, bei der Bildung von Koalitionen. Es ist der Diskurs, den die AfD seit Monaten bestimmt und nun in der Reaktion auf die Wahlen oder den Anschlag von Solingen bei konservativen, Mitte- oder linken Parteien Populismus zulässt. Das Stigma der anderen wird zum Programm von allen und zum Kumulationspunkt von Diskursen, die nur darauf zulaufen und alles überlagern. Das Fremde, das andere, das Neue wird zur Gefahr und das Übel von allem. Das wird in diesen Tagen in Berlin über die Debatte in den Politzimmern klarer – und nur wenige halten dagegen. Moses ist in die Opposition gegangen. Im fünften Buch, das sich stark von den anderen vier unterscheidet, übernimmt Moses die Parole, zuerst anstelle Gottes, dann immer stärker als Gegenprogramm und wird zum Verfechter der Idee einer Gesellschaft mit Rechten und Pflichten, mit der offenen Frage, ob letztlich Gott oder Moses die Gesetze gegeben und formuliert hat. Die Exegese kennt beide Antworten. In der Gegenwart stehen die demokratischen Gesellschaften am Scheideweg zwischen Reeh und Schoftim.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann