Das Jüdische Logbuch 13. Sep 2019

Rencontre mit Roger Waters

Venedig, September 2019. Der Status quo sollte nicht zur Normalität transformiert 
werden. Israels Besatzungspolitik ist nach rund 50 Jahren bereits Teil der Normalität geworden und mit Ankündigung weiterer Expansion von Premier Binyamin Netanyahu von Mittwoch kaum mehr der Kritik ausgesetzt, sondern Gewinnparole im Wahlkampf (tachles online berichtete). Als ob das Wetter die Debatten am gleichen Abend hätte vorwegnehmen wollen, peitschte der Sturm am letzten Freitag über die Stände am venezianischen Lido, die Wellen knallten gegen die aufgehäuften Steinstege und der Wind trieb die Besucher des Filmfestivals von Venedig vor sich her. Am Abend stand ausser Programm die Musikdokumentation «Us + Them» über die jüngste Konzerttournee des ehemaligen Pink-Floyd-Mitglieds Roger Waters auf dem Programm. Ein akustisches und visuelles Feuerwerk mit vielen Songs aus «The Wall» und «The Dark side of the Moon». Auf letztere referiert der Filmtitel mit einer politischen Botschaft, die in den letzten Jahren von Roger Waters bei Konzerttourneen zusehends in den Vordergrund gestellt wird: Einsatz für Menschenrechte. Prominent darin figuriert Waters Kritik an der israelischen Besatzungspolitik unter anderem durch sein Engagement für die Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS), was den Briten massiver Kritik aussetzt. So auch in Venedig, wo er nach der Weltpremiere im Panel mit Liv Tørres, Direktorin des Nobel Peace Center, mitunter kritische 
Fragen beantwortete. Ausgangspunkt jeder Argumentation von Waters ist die allgemeine Menschenrechtserklärung von Paris aus dem Jahre 1948. Waters fordert die israelische Regierung auf, die Menschenrechte der arabischen und palästinensischen Einwohner Israels zu garantieren. Offene antisemitische oder israelische Aussagen sind nicht zu hören – doch Roger Waters gilt durch seine Voten nicht nur als massiver Kritiker von Israels Regierung, sondern durch sein Engagement für BDS als Antisemit. Mag sein, dass er einer ist. Mag sein, dass er keiner ist. Das Dilemma ist aber offensichtlich: Soll geschwiegen werden zu einem Unrecht, auf die Gefahr hin, als Antisemit gebrandmarkt zu werden? Wird das Unrecht weniger, wenn Antisemiten es vortragen? Wird es relevanter, wenn Juden sich Kritik anschliessen? Ein Dilemma gerade auch unter Jüdinnen und Juden, die Menschenrechte für alle Menschen einfordern von Syrien bis Hong Kong – und auch für Palästinenser. Dass zusehends Funktionäre, wie etwa kürzlich wieder einmal Antisemitismusbeauftragte in Deutschland, die offene Diskussion zu Themen instrumentalisieren oder gar verunmöglichen, verstört. Themen, die in die öffentliche Arena und nicht die Zensur gehören. Die Causa Waters wird weiter andauern, sein zum Teil verstörendes und mitunter etwas selektives Engagement auch. Er wird Kritiker weiterhin zur Frage herausfordern, ob allenfalls das Engagement für das Richtige wie etwa Gleichberechtigung, auch dann legitim sein kann, wenn es nicht politisch korrekt oder unlauter eingebracht wird. Wenn allerdings Israels Opposition die Besatzung wieder zum Thema macht anstatt Künstlern auf der Bühne die Plattform zu überlassen, kommt die Debatte wieder dorthin, wo sie hingehört: nach Israel.

Das Rennen am Festival machten die Filme 
«Joker» von Todd Phillips und Roman Polanskis «J’accuse» (tachles online berichtete).

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann