Das Jüdische Logbuch 23. Aug 2019

Realität schlägt Schönrederei

St. Moritz, August 2019. Der Zug von Zürich kommt pünktlich in Landquart an. In gros­ser Eile hetzen die Fahrgäste mit Gepäck durch die Unterführung zur Rhätischen Bahn in Richtung Engadin. Darunter einige jüdische und charedisch-jüdische Familien. Eine junge Familie aus Jerusalem rennt in den bereits auf dem Gleis stehenden Zug. Eine junge Frau, ein junger Vater mit traditioneller chassidischer Kopfbedeckung «Streimel» und ein jugendlicher Sohn mit schwarzem Hut. Als die Familie bereits im Eingang des Zugs steht, spricht eine Schweizerin die Familie auf Englisch an und weist diese sehr nett darauf hin, dass sie vermutlich nach St. Moritz fahren möchten. Dieser sei aber der verspätete vorgängige Zug in ein anderes Tal, und sie müssten vielleicht noch kurz warten, bis der richtige Zug nach St. Moritz eintrifft. Die Familie reagiert nicht, wendet sich ab und bleibt im Zug. Ein säkularer Jude, der den Versuch der einheimischen Dame mitbekommen hat, dankt ihr und spricht die orthodoxe Familie auf Hebräisch an. Die schaut erschrocken auf: «Weshalb sprechen Sie hebräisch. Sind Sie Jude?» – «Wollen Sie nach St. Moritz?» – «Ja.» – «Dann sind Sie im falschen Zug. Die Dame hat versucht, Sie darauf hinzuweisen.» – Die Familie steigt aus, ignoriert die proaktive Passantin und wartet etwas verunsichert auf den nächsten Zug. – Zwei Welten prallen da nicht nur optisch über die Sommerwochen aufeinander im Engadin. Sei Jahrzehnten fordert der charedische Tourismus im Engadin die ansässige Bündner und auch Schweizer jüdische Gemeinschaft heraus. Bereits Ende der 1980er Jahre hat der damalige Präsident der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ) und spätere Gründer der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) Sigi Feigel versucht, mit Flugblättern und Aktionen aufklärend zu vermitteln zwischen streng-orthodoxen jüdischen Gästen und der oft überforderten, manchmal judenfeindlich reagierenden Bevölkerung. Dazumal vorwiegend in Arosa und Davos. Nach­haltig lösen konnte auch er damals die Konflikte nicht, wenn es darum ging, die orthodoxe jüdische Lebensart, kulturelle Unterschiede und begrenzte gegenseitige Offenheit für Fremdes zum reibungslosen Zusammenleben aufzulösen. Inzwischen ist der charedische Tourismus im Engadin zur Industrie geworden. Jeden Sommer entsteht eine ganze Infrastruktur mit Hotels, Geschäften mit Koscherprodukten, Gebetsräumen nach dem Pop-up-Prinzip. Tausende von charedischen Gästen finden den Weg ins Engadin (tachles berichtet seit Jahren). Seit der Eskalation mit weltweiten Schlagzeilen um ein Schwimmverbot für Juden in Kleidern (tachles berichtete) kümmert sich nun auch der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) vermehrt um das Thema. Doch es ist so eine Sache mit der Religion und Kommunikation im öffentlichen Raum. Freie Religionsausübung ist keine Einbahnstrasse und verbrieftes Recht, das frei von Vernunft unterwegs sein kann. Kommunikation soll der Öffentlichkeit nicht ein X für ein U vormachen. Vollmundig lancierte der SIG Aufklärungsbroschüren und sogenannte Vermittler vor Ort, im Hinblick auf das letzte Woche eine Medienkampagne und der Leiter der Kommunikation des SIG unter anderem so an die Redaktionen gelangte: «Wie Sie sich sicher erinnern, hatten Sie von mir eine Medieneinladung bzw. ein Update zu unserem Vermittlungsprojekt Likrat Public in den Schweizer Bergen bekommen. Ich wollte Sie kurz darauf hinweisen, dass die Vermittlerinnen und Vermittler nun seit Montag in Arosa, Davos und im Saastal unterwegs sind. Um sich einen Eindruck zu verschaffen, möchte ich Ihnen diesen Text empfehlen.» In dem Text (tachles 33/2019) heisst es dann: «Nach monatelangen Vorbereitungen und nach zwei Jahren Konzeptarbeit ist der Höhepunkt des Likrat-Public-Sommerprojekts endlich gekommen. Am Montag gegen 11 Uhr vormittags standen drei Likratinos am Bahnhof Davos Platz. » Und freundlich wird Hilfe an­geboten: «Falls Sie Interesse an einer Bericht­erstattung hätten und ich Ihnen dabei behilflich sein könnte, würde mich das freuen, von Ihnen zu hören.» Am letzten Sonntagnachmittag geht dann ein Video viral, das im Laufe der Woche u. a. zur «Blick»-Schlagzeile «Davoser stänkern gegen Juden-Prozession» zum Themenkomplex «Hass auf Facebook» führt. Das Video zeigt Hunderte von tanzenden Charedim auf einer Strasse in Davos bei der Einweihung einer neuen Sefer Thora, begleitet von lauter Musik. Die Behörden der bewilligten Kundgebung sprechen später von über 2000 Anwesenden und ein paar Schau­lustigen. – Kopfschüttelnd sitzt eine Gruppe traditioneller­ Jüdinnen und Juden dann am Sonntagnachmittag zum Kaffee in St. Moritz und blickt auf diesen und andere Videos der gleichen Veranstaltung. Kopfschütteln über die viralen Bilder, da allen klar ist, dass dieser Kulturschock nicht nur kulturfreundliche Reaktionen nach sich ziehen wird und zuerst weniger mit Juden, sondern gleichsam mit der Belegung des öffentlichen Raums von religiösen Aktivitäten zu tun hat. Kopfschütteln aber auch zum naiven Engagement des SIG, der mit Vermittlern und Broschüren gegen Windmühlen aufklärt, aber von solchen Veranstaltungen – nach einer monatelangen, mit viel Aufwand und finanziellen Mitteln ausgestatteten Kampagne – überrollt wird, wie dann auch die Debatten in den sozialen Medien zeigen.

Wenn die Kommunikationsarbeit auf Presseartikel drängt, die letztlich von der Realität anderweitig überrollt werden, dann zeigt sich einmal mehr, dass Kommunikationsabteilungen – wenn sie unbedingt Erfolge in Presseartikel messen wollen – Zeit lassen sollten on the Ground Herausforderungen und Probleme zuerst ganzheitlich lösen zu lassen. Nicht alles muss zum Event hochstilisiert werden gerade in einem Bereich, der viel Raum für Dialog und Zeit benötigt. Sonst wird die ernüchternde Engadiner Abend- nie zur erhellenden Morgendämmerung.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann