das jüdische logbuch 28. Mai 2020

Offenbarung oder Zukunft

Frankfurt, Mai 2020. «Du, der du jetzt diese Altäre baust /um unsere Kinder zu opfern / Du darfst es nie mehr tun» appelliert Leonard Cohen in seinem Antikriegslied «The Story of Isaac» und konfrontiert eine Gesellschaft, deren Väter bereit sind, ihre Kinder zu opfern für Ideologien, Gesellschaften, die die Lebensgrundlagen zerstören für Profit und Politiker, die den Weltfrieden opfern für Macht. «Du darfst es nie mehr tun» gehört in den Dekalog, der an diesem symbolischen Schawuot der Öffnung wie jedes Jahr gelesen wird. Denn Schawuot steht für den Anfang des Gesetzes. Für die einen das Gesetz durch Vernunft, für die anderen das Gesetz durch Offenbarung. Für alle das Gesetz wider Unrecht, Verbrechen, Zerstörung, Mord und Totschlag. Abraham hat sich zum Komplizen für einen geplanten Mord an seinem Sohn gemacht. Kein Opfer. Schlichtweg vorsätzlicher Mord. Dort, wo die Vernunft nicht herrscht, schützt das Gesetz. Gerade vor jenen, die mit Göttern argumentieren Schöpfung und Mensch zu opfern bereit sind. «Du darfst es nie mehr tun.» Ob Schawuot 2020 Rück- oder Umkehr bedeuten wird, hängt nicht von Göttern, sondern Menschen ab. Der Mensch wird selbst entscheiden, ob er Krieg oder Frieden verteidigt. Krieg gegen Mensch, Natur und Schöpfung. Frieden für Kinder, Freiheit und Zukunft. Denn das Verbrechen an der Zukunft hat schon längst begonnen. Schawuot stand einst für das Ende vom Anfang: Für das Ende der Omerzeit, das Ende der Knechtschaft, das Ende Ungewissheit. Schawuot steht mit der Megilat Ruth für Ethik im Umgang mit Frauen, Fremden, Armen in so vielfältiger Weise. Im Jahre 2020 steht Schawuot für das Ende einer historischen Zeit von Gesellschaften weltweit und die jüdische darin. Doch vielleicht steht Schawuot bald für den Anfang vom Ende, das kein apokalyptisches, kein messianisches, kein fremdverschuldetes sein wird: Die Dürren der Gegenwart, die Flucht von Kindern vor Regimen, die exzessive Eskalation des Kapitalismus sind menschengemacht.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann