Das Jüdische Logbuch 01. Jun 2018

Nation oder Heimland?

Göttingen, Mai 2018. Bedacht stellt der englische Historiker beim Kolloquium die Frage, ob Israel im jüdischen Kontext als Nation oder Heimland verstanden werden soll. Die junge Wissenschaftlerin hat soeben über «Lethal Zion: On the Jewish Longing for Europe» referiert und stellt sich den Fragen. Göttingens Lichtenberg-Kolleg ist ein Leuchtturm der Aufklärung. Historisch ist es Ausgangspunkt von Daniel Kehlmanns Roman «Die Vermessung der Welt». In Göttingen wurde der jüdische Mathematiker Moritz Stern als erster Jude Ordinarius an einer deutschen Universität. Das war vor rund 160 Jahren im Jahre 1859. Dazwischen liegt viel Weltgeschichte, Aufbruch, Enttäuschung, Verrat und Massenmord. Im Spiegel der Geschichte der Juden in Deutschland und der Aufklärung lässt die Frage nach «Nation State or Homeland» kaum einfache Antworten zu. Was hat die Gründerväter Israels veranlasst, sich bei der Ausrufung des Staates, der Nation Israel, vor 70 Jahren auf die biblischen Väter zu berufen? Wie verhält sich die Nation zur Heimat in der Moderne und wo verlaufen Identitätslinien ethnisch geprägter Stammeskulturen entlang von nationalen Definitionen? Eine Fragestellung, die sich durch den Nahen Osten ebenso wie durch Afrika zieht, auf der Matrix kolonialer Vergangenheit – sich noch verschärft im von Theodor Herzl vor den Weltkriegen definierten «Judenstaat». Im Europa des Postnationalismus rufen Populisten die Nation und somit die Frage an: Was macht die Nation heute aus? Was macht die Nation aus in einer globalisierten, nomadischen, weniger sesshaften Welt? Wie stark klaffen Sehnsüchte von Menschen nach Heimat, Identität, Ort auseinander im Verhältnis zur gelebten Wirklichkeit? «Nation State or Homeland» kann generell und in Israel vielleicht auch beides sein. Oder ist die Anrufung biblischer Legitimationen unvereinbar mit Nation? Die Debatte über beides innerhalb der jüdischen Gemeinschaft und ihrem Selbstverständnis wird von politischen und Sicherheitsdiskussionen überlagert. Das Selbstverständnis der Zivilgesellschaft von Israels multinationalen, multikulturellen, multikonfessionellen Bürgerinnen und Bürgern wird aufgrund der stark gewandelten Demografie und von Demokratieverlust noch lange zur Diskussion stehen, auch letztlich im Triangel der jüdischen Zentren in Europa, USA und Israel. In Göttingen stellt sich die Frage derweil mit anderen Kontexten und Vorzeichen, zwei Tage nach der Feier in der jüdischen Gemeinde Göttingen des zehnten Jahrestags der Neueinweihung der Synagoge und liefert vielleicht andere Antworten. Die Synagoge im Fachbauwerk wurde 1825 im benachbarten Bodenfelde erbaut, 1937 arisiert und fortan als Lagerschuppen genutzt. So überstand sie die Novemberpogrome von 1938. Im Jahre 2006 wurde die Synagoge nach Göttingen disloziert und wird heute von der jüdischen Gemeinde als Synagoge genutzt. «Nation State or Homeland»? Ob Israel und die Entwicklung der Geschichte Juden sesshaft machen wird oder nicht? Auf jeden Fall ist Nation definiert durch Gesetz und Heimat durch Kultur; portativ wie Synagogen und Bücher.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann