Das Jüdische Logbuch 10. Mai 2019

Lesen für die Freiheit

Wien, Mai 2019. Die Nachrichten werden nicht besser, doch die Wiener Zeitungshalter lassen anders verweilen beim Lesen. An diesem Morgen mit dem «Standard» im Kaffeehaus Eiles im 8. Bezirk bei der Josefstadt. Am Tag der internationalen Pressefreiheit der Aufmacher: «Freie Medien unter Beschuss», mit einer Übersicht der Dutzenden von ermordeten Journalistinnen und Journalisten im Jahre 2018 sowie jenen, die eingesperrt sind. Dazu ernüchternde Statistiken, die in Österreich von einer heftigen Kontroverse um den ORF-Tagesschausprecher Armin Wolf begleitet werden. Politiker von Österreichs rechtspopulistischer Partei FPÖ verlangen dessen Rücktritt, nachdem sie ihn tagelang heftig attackiert hatten. Anlass war ein Interview mit FPÖ-Generalsekretär Harald Vilimsky, der als Spitzenkandidat seiner Partei für die Europawahl kandidiert. Kritische Fragen empören die Partei, die verbal heftig um sich schiesst und selbst auf Fragen sensibel reagiert. Dass Politiker, Funktionäre von Lobbygruppen, hochbezahlte Kommunikationsberater direkten oder indirekten Druck auf Journalisten, Redaktionen oder Verleger ausüben, mit Klagen drohen oder anwaltlich intervenieren, Köpfe rollen sehen wollen und hinter den Kulissen den zum Teil heftigen Kampf gegen die freie Presse in allen möglichen Varianten führen, ist auch hier in der Schweiz und auch für kleine Verlage wie die JM Jüdische Medien AG eine regelmässige Begleiterscheinung. Der heftige Schlagabtausch in Österreich allerdings fällt in eine politische Zeit, da Medien täglich Grenzüberschreitungen wider Grundwerte ahnden, die gerade für Minderheiten relevant sind. Während der «Standard» am gleichen Tag von einer aktuellen Studie über «gravierende Wissenslücken zum Holocaust in Österreich» berichtet, zeigt sich, wie rasch Unwissen politische Debatten über Duktus und Sprache entfesselt. Mehr als die Hälfte der Österreicher, so die Studie, wisse nichts von der Zahl ermordeter Juden. Der Opfermythos lebe weiter in Wien und Umgebung. Das Wissen der Österreicher über den Holocaust sei durchwegs mangelhaft: Rund 56 Prozent wussten bei einer Erhebung für die Claims Conference nicht, dass vom Naziregime sechs Millionen Juden ermordet wurden. Unter den jüngeren seien es gar 58 Prozent. 38 Prozent glauben zudem, dass der Nationalsozialismus wieder an die Macht kommen könnte. Die Halbwertszeit von verbrieftem Wissen und gewiss geglaubten Gesellschaftsgrundsätzen ist kleiner geworden. «Wien 1900 – Aufbruch in die Moderne» heisst die hervorragende Ausstellung im Wiener Leopold-Museum, die auch anhand vieler jüdischer Exponenten die Explosion in Kunst, Wissenschaft, Literatur anschaulich beschreibt und aufzeigt, wie eine liberale Gesellschaft zwischen Tradition und Moderne die Emanzipation erprobt. Wie filigran und fragil allerdings, wie angreifbar die frei im öffentlichen Raum agierenden Schriftsteller, Künstler oder Wissenschaftler waren, zeigt letztlich die Geschichte. Schutzlos ist, wer offen denkt. Auch wenn die Verfassung solches schützen sollte. Die Kaffeehäuser in Wien gibt es noch und viele erzählen auf der ersten Seite der Menükarte von der lebhaften Geschichte und nennen stolz die wichtigen Stammgäste von einst. Sie sind alle weg, emigriert, deportiert, ermordet. Die Zeitungshalter allerdings sind geblieben und viele Leserinnen und Leser ebenso. Tag für Tag. Lesen ist noch immer ein Akt für die Freiheit – gegen alle Sanktionen.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann