Frankfurt, Juli 2025. Was war da mit der kritischen Theorie der Frankfurter Schule? Was ist wahr, was real, was selbstbestimmt? Swippen, zappen, scrollen. Die Frequenz der Fundamentalen ist hoch wie nie. Die Überforderung von Menschen, Systemen, Politik, Kanälen verändert die Gegenwart mehr als richtige oder falsche Entscheidungen, die oft nicht mehr bewusst getroffen werden, sondern resultieren, wie der verpuffende Dampf im Druckkessel. Für Reflexion gibt es kaum mehr Raum. Die Taktgeber, Spinndoktoren und Manipulatoren nutzen die Überforderung geschickt, triggern sie und hauen frühzeitig die nächste Eskalation raus. Solche Entwicklungen schwemmen politische und mediale Figuren hoch, die diesen Pakt mit realen Dämonen der kurzfristigen Oberflächlichkeit eingegangen sind und sich dem System unterwerfen, in dem sie es dominieren wollen. Die neuen Demagogen und die Sprunghaftigkeit der Gegenwart relativieren das alles. Der Iran-Krieg ist schon fast wieder vergessen, die verbriefte Evidenz dessen, was wirklich geschehen ist, kaum mehr von Bedeutung, unklar, was gerade in den Hinterzimmern des Weissen Hauses oder im Büro von Israels Premierminister Benjamin Netanyahu ausgeheckt wird, abseits von demokratischen Prozessen und Öffentlichkeit. Die Aushebelung der Systeme ist längst Programm. Swippen, zappen, scrollen – längst wird Wirklichkeit wie eine Schlaufe auf sozialen Medien gelenkt und weicht permanent dem nächsten Swippe. Theodor W. Adorno formulierte die Ambivalenz so: «Philosophie, die nicht mit dem Eintreten der Wirklichkeit rechnet, ist eine Fiktion. Aber sie wird zur blossen Reproduktion des Bestehenden, wenn sie sich ihm anpasst.» Die Reproduktion also als Automatismus der Willkür. Demokratie und offene Gesellschaft sind längst eine Insel im Ozean der libertären Weltherrschaft, in dem sie unterzugehen drohen. Am Scheideweg in die Zukunft mag all dies nicht mehr bedeutend und Aufbruch als Bruch mit allem Vergangenen das Primat der Gegenwart sein in Gesellschaften wider eine Kultur der Erinnerung, Vergewisserung und Redlichkeit gegen jegliche Radikalität. Doch was, wenn dem nicht so sein wird? Wo wird da etwa der Raum für eine wie auch immer geartete jüdische Idee sein? An diesem Frankfurter Sommerabend öffnet eine Schülerin Adornos den Horizont in die bevorstehende Abenddämmerung und reflektiert die Zeit des Aufbruchs in den 1960er Jahren mit all ihren Herausforderungen von damals. Eine Gesellschaft ohne Geländer, oft in Gefahr herab- oder umzustürzen. Während sie redet spiegelt sich die Gegenwart im Einst ganz neu. 1962 schrieb Adorno: «Fortschritt wäre, das zu verhindern, was immer wieder als Katastrophe droht, nämlich dass die Menschheit sich selbst zerstört.» Vielleicht ist das in diesen Tagen das letzte Mass der Dinge bei allen politischen Fragestellungen. Führt die nächste Entscheidung in Richtung Selbstzerstörung?
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
04. Jul 2025
Die Entkoppelung der Wirklichkeit
Yves Kugelmann