das jüdische logbuch 12. Jul 2024

Kiddusch und Revolution

Tel Aviv, Juli 2024. Alles ist in diesen Tagen anders in Israel. Der Flughafen Ben Gurion ist nahezu leer, die Strassencafés sind kaum besetzt, in den Shopping Malls sind kaum Menschen zu sehen. Überall wird an die Geiseln in der Gewalt der Hamas erinnert. Viele Erinnerungs- und Gedenkorte säumen Strassenecken, Häuserwände, den öffentlichen Raum. Malik ist der Vater einer noch lebenden Geisel. Würde er nicht ein T-Shirt mit dem Foto seines Sohnes Omer tragen, man hätte ihm die ganze tragische Situation nicht angemerkt. Omer hat strahlende blaue Augen, ist 21 Jahre alt, Musiker. Er war einer der Besucher am Nova-Festival, lebt in Herzlia. Malik hat Hoffnung, und er ist wie die meisten Familien wöchentlich auf den Strassen bei Protesten, verhandelt mit Regierungen und internationalen Organisationen. Seit Monaten. Doch er lässt sich nicht zermürben. Er ist voller Hoffnung, weiss von geretteten Geiseln, dass sein Sohn am Leben sein soll, und er hält sich an den Geschichten fest, die ihm erzählt wurden. Malik arbeitet in seiner eigenen Firma im Kulturbereich. Die neue Verhandlungsrunde zur Freilassung der Geiseln sieht er optimistischer als die vorangegangenen, begründet das und mach keinen Hehl daraus, was er von der aktuellen israelischen Regierung denkt. Er spricht ruhig, frei von Argwohn, mit klaren Analysen zur Situation. Wenn er von Palästinensern und Arabern in Israel spricht, dann tut er dies voll von Respekt. Er sieht keine politischen, sondern nur gesellschaftliche Lösungen für die vielen Herausforderungen und Probleme, die es in Israel schon vor dem 7. Oktober gab. Die jüdische Tradition und der Glaube würden seinem Sohn in diesen Monaten helfen. So erzählt er die Geschichte, wie Omer und die anderen Geiseln mit ihm in Gefangenschaft jeweils am Freitag um Traubensaft gebeten haben, um Kiddusch zu machen. Solche kleinen Dinge würden Omer Hoffnung geben und ihn durch die Zeit tragen. Doch Malik ist nicht naiv. Er weiss um die lebensbedrohliche Situation der Geiseln und die schwindenden Chancen. Er negiert nichts, doch lässt er Sorgen, Trauer, Ängste nicht überhandnehmen. Israels Gesellschaft scheint in diesen Tagen noch mehr paralysiert zu sein als beim letzten Besuch. Der Konflikt zerrt, die Routine im Umgang mit Konflikten und Krisen scheint in der Mitte der Gesellschaft verflogen zu sein, ebenso wie Vertrauen auf Regierung und Militär. Shelley ist um die 45 Jahre alt, arbeitet als Pädagogin. Sie erzählt von der Arbeit mit Kindern in Israels Schulen. Wer in Israel nicht extreme Positionen, seien es nationalistische oder religiöse, vertritt und dafür einsteht, leidet unter der Situation. Die Mitte der Gesellschaft sei in Israel weggebrochen. Die Unmöglichkeit, in Israel über den Konflikt offen zu sprechen, unter Einbezug der palästinensischen Seite, sieht sie als problematisch und sagt: «Die harte israelische Gesellschaft hat sich noch mehr verhärtet.» Sie würde das jeden Tag bei der Arbeit mit den Kindern mitbekommen. «Wir verlieren gerade auf allen Seiten in diesem Konflikt die nächste Generation.» Ari macht sich schon früh am Morgen auf den Weg zur grossen Protestkundgebung. Überall im Land sind Proteste vor Häusern von Ministern, der Knesset in Jerusalem und vielen anderen Orten angesagt. Er sagt: «Heute ist ein wichtiger Tag. Wenn in Frankreich die Rechtsextremen gewinnen, dann schadet das Israel.» Er fürchtet um die liberale Demokratie im Land, um den Rechtsstaat. «Wir können nicht alleine darum kämpfen, wir benötigen Allianzen mit Europas Regierungen.» Und er sagt: «Du siehst uns hier. Wir kämpfen hier nicht nur für die Geiseln, sondern für die liberale israelische Demokratie.» Und er fährt fort: «Glaubt aber nicht, dass wir das hier ohne Revolution schaffen können.»

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann