ISRAEL 15. Aug 2025

Die nächste Stufe der Eskalation

Premier Netanyahu zwischen Wahn- und Irsinn?

Binyamin Netanyahus neuer Gaza-Plan isoliert Israel von immer mehr Staaten – die Schweiz hält sich noch zurück.

Israel hat mal wieder die Welt in Aufruhr versetzt – diesmal mit der Ansage, Gaza-Stadt zu erobern. Generalstabschef Eyal Zamir ist dagegen, aber hat jetzt einen entsprechenden Plan zähneknirschend abgesegnet. Premier Netanyahu bleibt bei seiner Linie und verkündet, dass der Krieg so lange weitergeht, bis alle Geiseln frei sind und Hamas Geschichte ist – was ihm kaum noch jemand in Israel und ausserhalb glaubt. Militärisch klingt das nach «Wir ziehen das jetzt durch», koste es was es wolle, politisch aber nach einem Frontalangriff nicht nur auf ganz Gaza, sondern vor allem auf die Geduld der internationalen Gemeinschaft. Zumal die humanitäre Lage längst am Limit ist: Knapp 90 Tote alleine am Mittwoch, darunter Zivilisten, die beim Verteilen von Hilfsgütern gestorben sein sollen. Wer dachte, es könne nicht schlimmer kommen, hat sich getäuscht.

Konflikt mit Völkerrecht
Die Reaktionen? Ziemlich unmissverständlich. Deutschland, Italien, Grossbritannien, Australien und Neuseeland haben gemeinsam gesagt: «Das ist nicht nur keine gute Idee, das ist auch völkerrechtswidrig.» Frankreich fordert einen sofortigen Stopp der Offensive, die Briten rufen «Zurück an den Verhandlungstisch», und selbst die sonst so vorsichtigen und geschichtsbewussten Deutschen drehen den Rüstungshahn zu. Der Europarat legt noch eine Schippe drauf und ruft zu einem kompletten Waffenembargo auf. Kurzum: Israels Sympathiekonto in den Hauptstädten dieser Welt rutscht gerade tief ins Minus.

Neuseeland hat sich gleich für den Klartext-Award beworben: Premier Luxon nannte Netanyahu einen Mann, der «den Verstand verloren» habe – in der Diplomatenwelt ungefähr so dezent wie ein Presslufthammer um vier Uhr morgens. Australien setzt einen drauf und will Palästina offiziell anerkennen. Offiziell, um den Frieden zu fördern. Inoffiziell, um Israel eine schallende Ohrfeige zu verpassen. Jerusalem reagiert erwartbar empört, und in Brüssel denkt man schon laut über neue Sanktionsideen nach.

Kritik von Israel-Lobby
Während die Regierungen sich gegenseitig in Statements überbieten, beginnt es auch in jüdischen Gemeinden zu rumoren. In Grossbritannien fordert der Board of Deputies – sonst eher die diplomatische Feuerwehr, wenn Israel in der Kritik steht – plötzlich ungehinderte Hilfe für Gaza und warnt davor, Essen als Kriegswaffe einzusetzen. In den USA mahnt selbst die traditionell proisraelische Lobby AIPAC zu mehr humanitärer Sensibilität. Die liberaleren Strömungen, allen voran die Reformbewegung, sprechen ganz offen von einem moralischen Sturzflug, wenn sich an der Lage nichts ändert. Das ist für Israels Führung mindestens so unangenehm wie ein kritischer UN-Bericht.

Dann ist da die Schweiz – nicht nur neutral, sondern auch die offizielle Hüterin der Genfer Konventionen. Bern erinnert unermüdlich daran, dass Kriegsrecht kein Buffet ist, bei dem man sich nur das aussucht, was einem schmeckt. Bundesrat Cassis hat schon im Frühjahr klargemacht: Humanitäre Hilfe ist Pflicht, nicht Kür. Millionenhilfen wurden zugesagt, und sogar eine Konferenz der Vertragsstaaten wollte man einberufen – die dann an der mangelnden Begeisterung der Teilnehmer scheiterte, um es höflich zu sagen. Tatsächlich gab es heftigen Streit im Hintergrund. Also wurde nichts aus den Schweizer Plänen. Und das Land ist trotz aller Verantwortung zu klein und für Netanyahu und die Hamas zu unwichtig, um eine bedeutende Rolle in der aktuellen Situation spielen zu können.

Diplomatischer Rückzug
Insgesamt steht Israel jetzt in einer Zwickmühle: militärisch auf Angriff gepolt, möglicherweise sogar mit der Absicht, ganz Gaza zu besetzen, diplomatisch auf dem Rückzug, um nicht zu sagen: im Abseits. Der Plan für Gaza-Stadt ist politisch ein Brandbeschleuniger. Partnerländer, die noch vor ein paar Monaten hinter Israel standen, rücken ab – mal mit scharfen Worten, mal mit harten Massnahmen. Das ist kein sanftes «Bitte hört doch auf», sondern ein ziemlich deutliches «So nicht!».

Ob dieser Druck reicht, um den Kurs zu ändern? Eher fraglich. Die Regierung Netanyahu spielt auf Zeit und hofft, dass militärische Fakten am Ende schwerer wiegen als internationale Empörung. Aber jeder weitere Tote, jede blockierte Hilfslieferung, jedes harte Statement von Verbündeten macht es schwerer, die eigene Linie zu verkaufen – bei den Vereinten Nationen, bei Handelsgesprächen mit Brüssel und anderswo und sogar in der eigenen weltweiten Community.

Was passiert, wenn Israel wirklich Ernst macht und Gaza-Stadt frontal angreift? Dann geht das Ganze in die nächste Eskalationsstufe. Mehr Länder könnten Palästina anerkennen, nicht aus plötzlicher Liebe zu Ramallah, sondern aus Frust über Jerusalem. In der UNO gäbe es noch mehr scharf formulierte Resolutionen, auch wenn die USA weiter blockieren, könnten über internationale Gerichte und diplomatische Umwege trotzdem Sanktionen und Anklagen ins Rollen kommen.

Ungemütlich für Wirtschaft
Wirtschaftlich dürfte es ungemütlich werden: eingefrorene Handelsabkommen, gestoppte Forschungsprojekte, abgesagte Militärkooperationen. Deutschland hat den Anfang gemacht, andere könnten folgen. Ein echtes Waffenembargo würde Israel nicht sofort lahmlegen, aber die Abhängigkeit von den USA zementieren – und US-Präsident Donald Trump ist nicht gerade bekannt dafür, diplomatische Dauerfeuer gerne auszuhalten, wenn die eigenen Interessen leiden.

Parallel würde sich der Graben in der jüdischen Diaspora vertiefen. Teile würden Israel lauter denn je verteidigen, andere würden mit ähnlich lauter Stimme sagen: «Israels Vorgehen ist unjüdisch!». Auf den Strassen westlicher Grossstädte wären antiisraelische Protestmärsche fast schon Tagesordnung. Ein PR-Albtraum, der sich in Bilder und Schlagzeilen verwandelt, die in Jerusalem niemand wollen kann.

Das Schwerste aber wären die Folgen vor Ort: Jeder zusätzliche Bombenkrater, jede zerstörte Infrastruktur in Gaza macht eine spätere politische Lösung unwahrscheinlicher. Selbst wenn der Krieg militärisch «gewonnen» würde, bliebe am Ende ein Trümmerfeld. Dann stünde Israel womöglich als Sieger da, aber um welchen Preis? Mit weniger Freunden, mehr Gegnern und einer internationalen Bühne, auf der das Scheinwerferlicht, um es höflich zu sagen, selten schmeichelhaft ist.

Kurz gesagt: Man kann so einen Angriff durchziehen. Aber man muss damit leben, dass man danach nicht nur die Schlachtfelder von Gaza, sondern auch die diplomatische Landschaft in Schutt und Asche gelegt hat. Und das ist ein Preis, den selbst hartgesottene Strategen irgendwann als zu hoch empfinden könnten, wenn auch vielleicht erst, wenn die Rechnung längst präsentiert wurde, so wie Netanyahu das will. Und niemand spricht mehr über die Hamas. Das kann den Islamisten nur recht sein. Sie kommen nicht mehr vor und Israel ist an allem schuld. Und das noch keine zwei Jahre nach dem Massaker vom 7. Oktober.

Richard C. Schneider