das jüdische logbuch 28. Apr 2023

Israels Neugründung

Tel Aviv, April 2023. Ein Altersheim in Tel Aviv. Betagte Menschen demonstrieren im Eingangsbereich gegen die amtierende Regierung. Sie sind alle über 90 Jahre alt, es sind einige Holocaust-Überlebende darunter. Darunter Wählerinnen und Wähler des Likud. Das Bild vereint alles, was Israel in diesen Tagen ausmacht. Demokratie, Freiheit und Würde wird auf der Strasse und nicht im Parlament verteidigt. Die Protestbewegung holt sich ein demokratisches Israel zurück, das es so nie gegeben hat, aber werden soll. Das liberale Israel, das nicht mehr von der Politik korrumpiert und von nationalreligiösen Eiferern bedroht werden soll. Die einzige Demokratie im Nahen Osten soll eine richtige werden. Es ist Jom Haazmaut auf der Boulevard Rothschild. Die Protestbewegung geht auch an diesem Tag weiter. Experten sprechen mittlerweile von Millionen Anhängerinnen und Anhängern der Protestbewegung. Hunderttausende davon gehen im ganzen Land wöchentlich auf die Strasse. Auch wenn diese Schlacht für Netanyahu noch nicht ganz verloren ist – die Protestbewegung holt sich zurück, was Jahrzehnte verschlafen, riskiert und zunehmend faschistisch agierenden Repräsentanten überlassen wurde. Es ist Abend geworden. In Jerusalem feiern die Menschen den Unabhängigkeitstag. Vom 75-Jahre-Jubiläum ist kaum etwas zu bemerken. Die Menschen feiern und protestieren. Ein ehemaliger Topunternehmer fasst die Situation zusammen: «Es geht um den israelischen und nicht um den jüdischen Staat. Die Protestbewegung kämpft für den säkularen Staat. Auch die praktizierenden Juden darin.» Es bildet sich sogleich eine Gruppe von Menschen auf der Terrasse im Freiheitspark im Herzen der Stadt. Da die Medienberaterin, dort die Medizinethikerin und so fort. Die Menschen sind sich in ihrer sonstigen Uneinigkeit einig. Diese Regierung und vor allem Premier Netanyahu müssen weg und er soll ins Gefängnis. Die Menschen sind es müde, die korrupten Eliten weiter zuzulasssen. «Netanyahu wird ins Gefängnis gehen müssen, wie so viele andere israelische Mitglieder der Exekutive von einst», sagt ein Tech-Unternehmer. Hirschson, Olmert, Katsav und so fort sind gemäss dem Unternehmer für kleinere Vergehen zur Rechenschaft gezogen worden. Von allen Richtungen dröhnt Musik auf Terrasse. Im Park sind tanzende und singende Menschen zu beobachten. Die israelische Flagge hat auf einmal eine ganz neue Bedeutung erhalten und hat nichts mehr mit jenen in den israelischen Siedlungen zu tun, die am Tag darauf auf einer Reportage mit einem Fernsehteam beobachtet werden sollten. Die Protestbewegung gründet gerade ein neues Israel, das utopische Israel von Herzls Utopie soll nun ganz umgesetzt werden: Trennung von Staat und Religion, Verfassung, Demokratie ohne Adjektiv. Jüdisch ja – aber kein jüdischer Staat. Israel ja – aber keine Autokratie. Wer mit jungen Menschen in diesen Tagen auf einem Campus der Universität Tel Aviv oder in der Kunstakademie Bezalel spricht, hört unisono eine Generation sprechen, die die Widersprüche ihrer Eltern nicht mehr tragen kann und sich im Protest im Altersheim symbolhaft zeigt. Die junge Akademikerin sagt: «Wir haben die Schoah Jahrzehntelang für Politik missbraucht und uns nicht um die Überlebenden gekümmert. Jetzt ist ihr Nie-Wieder zum Slogan für uns Junge geworden.» Nie wieder soll Israel durch innere Zerstörung bedroht und die liberale Demokratie zur Disposition gestellt werden. Beim Besuch einer Siedlung nahe Jerusalem am nächsten Tag sehen das viele anders – und erstaunlicherweise doch nicht alle. Diese Revolution wird gewonnen werden. Die Frage wird bleiben, wird der Sieg gegen die rechtsextremen Faschisten dann nachhaltig umgesetzt oder ob die Opposition wiederum jahrelang im indifferenten Schlaf versinkt. Am Donnerstagmorgen hat Israels Präsident Itzchak Herzog im Museum of Tolerance Jerusalem bei seiner Eröffnungsansprache nochmals die Demokratie Israel und die Chancen dieser aktuellen Debatte unmissverständlich formuliert, sich für eine Verfassung ausgesprochen, die allen Minderheiten gleiche Rechte zugesteht, «checks and balances» sowie die Gewaltentrennung garantiert. – An diesem Jom Haazmaut zumindest ist Israel neu gegründet worden von den Menschen auf der Strasse.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann