das jüdische logbuch 21. Apr 2023

Israel ohne Haggadah

Jerusalem, April 2023. Ein Abend im Garten der Kunstakademie Bezalel. Noa ist in Ramat Gan geboren und aufgewachsen. Sie diente unter zwei israelischen Premierministern im Beraterstab. Davor hat sie an der Hebräischen Universität studiert, in der Armee in einer Einheit der «Intelligence» gedient. Wenige Tage vor Jom Haazmaut spricht Noa von den Protesten. Wöchentlich geht sie mit ihren Kindern auf die Strasse. Die junge Frau ist schon mit einem Bein im Ausland – doch sie möchte Israels Demokratie verteidigen, für sie kämpfen und einen letzten Versuch machen in Israel zu bleiben. Ihre Analyse ist scharf, ihre Kritik an der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Situation Israels massiv. «I don’t want to sell my country» ist dieser Satz, der noch Stunden nachhallen wird. Noa spricht von ihrer jüdischen Identität. An Pessach liest sie längst nicht mehr die Haggadah mit den Kindern sondern erzählt eine andere, die richtigeren Geschichten. Sie möchte nicht immer und immer wieder eine jüdische Identität an Opferkult, sondern jüdische Werte zum Ausgangspunkt nehmen. Jene Werte, die Israels Gegenwart diamentral entgegenstehen: Gleichberechtigung, Freiheit für alle oder etwa redlicher Umgang mit dem Thema Sicherheit. Dieser Text wollte im Hinblick auf Israels Jubiläum eigentlich von einem anderen Israel erzählen. Von der Fahrt auf der Route 40 von Norden nach Süden, durch kleine Dörfer, Moschawim und Kibbutzim, Besuche bei Beduinen und so fort. Doch die Reise in Gegenwart und Geschichte des anderen Israel mit Hippiedörfern, alternativen zum Massentourismus, biologischem Weinanbau, das Israel von Ben Gurion bis hin zu modernen Militär- und Dimonas-Atombezirken, die Abschweifungen ans Tote Meer oder Gespräche am Krater von Mizpe Ramon, die Touren an den Grenzen zu Ägypten und Jordanien, die Begegnung mit Outcasts, Wissenschaftlern in Beerschewa und so fort – all das hat Israels Kulmination der letzten Jahrzehnte in eine aktuell amtierende rechtsextreme Regierung in den Hintergrund treten lassen. Die grosse Geschichte Israels spiegelt die Aktualität anders. Noa macht sich über die Region keine Illusionen, ordnet Gefahren für Israel ein. Sie durchbricht Narrative und sagt, was viele sich nicht zu sagen getrauen oder seit Jahren negieren. Sie haut glasklare Sätze raus, benennt das Gift in der Gesellschaft und Region, Selbstbetrug und all dem, was die Solidarität mit dem Erfolgsland zu sehr verdrängt und zur inneren Bedrohung verkommen lassen hat. Es sind die vielen Israels, die da aufeinanderprallen auch im Gespräch. Das Israel der Pioniere, der jüdischen Kulturevolution, der Wissenschaft, Wirtschaft, des Freiheitsgeists, das Israel mit seiner eigenen Apartheit, gesellschaftlichen Verhärtung und jüdischen Entfremdung. Die symbolische, aufgeladene Zahl 75 hat auf einmal keine Bedeutung mehr, wenn in der Realität das grosse Ganze auf dem Spiel steht. Noa ist eine von vielen möglichen Stimmen in Israel. Heute lebt sie in einem Moschaw nahe Tel Aviv. In einer verhärteten Gesellschaft ist der Moschaw für sie der einzige Ort für ein solidarisches Zusammenleben. Ein Zusammenleben, das mit der Protestbewegung nochmals eine ganz neue Dimension erfahren hat. Doch Noa macht sich keine Illusionen, kennt Israels Innenleben von sieben Jahren Dienst im Büro der Premierminister mit allen privilegierten Informationen nur allzu gut. Sie weiss um Israels Stärken und Schwächen, ist keine naive Friedensaktivisten, sondern eine junge Mutter, die um die Existenz dieses Landes kämpft, das für sie nur eine konsequent liberale Demokratie sein kann. Israels Existenzkampf hat schon lange nichts mehr mit seinen Feinden zu tun. Israels innere Verwerfungen werden zur Herausforderung der kommenden Monate. Am Vorabend von 75 Jahren Israel machen die Protestbewegung und ihre Gegner mobile. Der Kampf um Israel wird in den nächsten Tagen auf den Strassen des Landes sichtbar sein und die Bilder um die Welt gehen. Noa wird mit ihren Kindern wieder dabei sein. Doch die Hoffnung in ihren strahlend grünen Augen weicht immer wieder der Ungewissheit und zunehmenden Nachdenklichkeit darüber, wohin das alles führen wird und auf welche grosse Konfrontation alles zusteuern könnte. Entlang der Route 40 sitzen in diesen Tagen die Outcasts, trinken abends ein Bier, drehen sich einen Joint oder meditieren mit Blick gen Süden – Richtung Mizraim. Noas Haggadah, ihre Erzählung beginnt nicht mit der Versklavung, sondern dem biblischen Satz «WeAhvta LeReacha Kamocha» (Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst).

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann