das jüdische logbuch 05. Apr 2023

Exodus in die Selbstversklavung

Nizza, April 2023. Das Meer glänzt in der Sonne, die Wellen ziehen die Steine zurück ins Wasser. Die unverhoffte Teilung des Meeres setzte zum letzten Akt in der Pessachgeschichte an – auf den noch viele bis heute folgen sollten. Die Mythologie von Pessach hat in jeder Generation ihre eigene Bedeutung. Die Sedernächte nach der Inquisition, nach den Pogromen in Osteuropa, nach der Schoah, nach der Gründung Israels, nach Kriegen gegen Israel, in der Pandemie oder nach dem Angriffskrieg gegen die Ukraine kontextualisierten die Idee von Despotismus, Befreiung und Wüstenwanderung jeweils anders. Mit Inbrunst singen die Familien «Nächstes Jahr in Jerusalem», erinnern an Versklavung und Verfolgung und die Erfolgsgeschichte der Befreiung vor dem pharaoinischen Despoten. In diesem Jahr steht der Freiheitskampf vieler Jüdinnen und Juden in und ausserhalb Israels gegen ein jüdisches faschistoides Regime in Israel im Zentrum. Auf einmal figuriert Israel nicht mehr als selbstverständliche Antwort als symbolisches oder reales Endziel. Denn in Israel sitzt mit dem amtierenden Netanyahu-Regime eine Regierung, die mit ihrem theokratischen Nationalismus die jüdische Definitionshoheit neu formulieren möchte. Jüdische Extremisten gab es immer – aber sie waren nie mehrheitsfähig. Das Amalek-Judentum führte zum Kahane-Zionismus, zu einer rassistischen und antijüdisch-jüdischen Ideologie, die sich mit der Logik des Extremismus aber nicht mit der pluralen jüdischen Idee vieler Stämme einlässt. Eine Idee, die zwangsläufig auf eine liberale Demokratie zuläuft, auf Rechtstaatlichkeit und Humanismus. Die Haskala war kein Unfall in der Geschichte, sondern ihre logische Konsequenz erwachsen aus Quellen, säkularisiert und kulturell eingebettet. In diesem Jahr stehen Matza, Marror, Karpas, die Fragen im «Ma nischtana», die Erinnerung an die Sünden und die Aufzählungen und Erinnerungen in den Liturgien unter anderen Vorzeichen. Der Auszug aus Israel steht für viele zur Disposition, die Flucht vor einem jüdischen Pharao-Club, die Befreiung von der Selbstversklavung wird geradezu zur vermeintlichen messianischen Verheissung der Gegenwart. Doch leider nehmen die Extremisten Dinge wörtlich, die nur als Idee gemeint waren. «Nächstes Jahr in Freiheit» wird es vielleicht bald in neuen Haggadot heissen, um die Erfüllung der jüdischen Idee zu formulieren.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann