Venedig, Oktober 2022. Wo sind eigentlich die Faschisten geblieben? Der Lido scheint in der prallen Sonne. Menschen laufen stundenlang auf und ab. Die Kinder spielen im Sand. Die Thomas-Mann-Szenerie ist immer noch da. Die Cabanas sind teileweise abgebaut, die Saison verlängert und der Herbst in weiter Ferne. Die Nachrichten berichten vom heissen Krieg und kalten Winter, der Energiekrise, Inflation, atomaren Drohungen. Italiens Innenpolitik kommt an Rande vor, die Titelseiten erinnern kaum mehr an die Wahlen von voriger Woche. Die Tage sind heiss, die Abende warm, die Nächte mild. Der kalte Krieg ist wieder omnipräsent und heiss diskutiert. Wort- und Gedankenspiele, Kaffeesatzlesen und Szenarienspiele, Ohnmachtsvoten und immer wieder klare Realpolitik. In der spanischen Synagoge treffen sich die venezianischen Juden zum Auftakt von Sukkot. Ein kleiner junge spielt in einer Ecke der Synagoge mit einem Etrog. Gelb strahlt er hervor. Die Zitrusfrucht am dritten Erntedankfest, Symbol für die Einheit in Erinnerung an den Auszug durch die Wüste. Mit dem Klimawandel formiert sich auch das jüdische Jahr neu, fühlt sich an, wie auf der anderen Erdhalbkugel. Laubhütten ohne Heizungen, Chanukka bei geöffneten Fenstern, Tu Bischwat ohne Erstlingsfrüchte. Die Jahreszeiten haben das Leben, die Kultur, die Traditionen geprägt – was, wenn sie sich ändern oder verschwinden? Beim anschliessenden Kiddusch in der Sukka herrscht gute Stimmung. Im Ghetto Nova herrscht heiterer Betrieb. Jüdische Besucherinnen und Besucher, Touristen aus aller Welt flanieren über den Platz. Soeben hat die Gemeinde einen neuen Rabbiner eingestellt. Die Szenerie wandelt sich kaum – doch längst haben sich die Zeiten geändert. Wann kommt der Herbst? Was bedeuten die heissen Tage für die Lagune? Es sind die letzten Tage der Biennale. Die Arsenale präsentieren engagierte Kunst. Die Giardini internationales Kunstschaffen. Durchaus politisch. Ohne Documenta-Skandal. Anselm Kiefer erzählt im Dogenpalast in einer Ausstellung Welt- und Stadtgeschichte. Und irgendwie stellt sich die Sinnfrage noch mehr als in anderen Jahren. Was ist wichtig, was Priorität, was Zeit? Der Herbst ist ein anderer geworden. Die Menschen, die Gesellschaften haben sich verändert im Wandel der Zeit. Mit offenem Ausgang. – Der kleine junge trägt den Etrog stolz vor sich her. Etwas Kontinuität in diesen wirren Zeiten.
das jüdische logbuch
13. Okt 2022
Ein Nachruf auf die Jahreszeiten – oder Venedigs Etrog

Yves Kugelmann