das jüdische logbuch 10. Jan 2025

Die Relativitätstheorie der Gegenwart

Palermo, Januar 2025. Italiens Süden ist mehr Italien als Europa geworden. Die Bausubstanz ist alt, hier und da Flickwerk, dazwischen geschichtsträchtige Architektur: normannisch-byzantinische Bauten mit orientalischem Einschlag. Das spiegelt sich auch in vielen Gassen wider, etwa auf Strassenschildern, die auf Hebräisch, Arabisch und Italienisch geschrieben sind.

Die jüdische Geschichte Siziliens ist belastet. Mit der spanischen Inquisition wurden die Juden auch dort von der Kirche vertrieben, die Synagoge zerstört. Seit 2017 existiert jedoch wieder eine kleine Synagoge in der ehemaligen Kirche Ex Oratorio di Santa Maria del Sabato, genutzt von einer kleinen jüdischen Gemeinschaft.

Sizilien war stets ein Ort starker Migration, und das zeigt sich auch heute noch im Strassenbild. Die Einflüsse sind allgegenwärtig, etwa auf den vielen Märkten, die teils typisch italienisch, teils nordafrikanisch geprägt sind. Der Blick auf Europa vom südlichen Ende des Kontinents wirkt gelassener – Europa und die faschistische italienische Regierung scheinen weit entfernt.

Parallelwelten mit asymmetrischen Verläufen tun sich auf, ebenso wie die dramatischen Entwicklungen in der Welt in Real Time ihren Lauf nehmen. In Österreich deutet sich eine rechtspopulistische Regierung an. Was die Niederlande im vergangenen Jahr bei den Koalitionsverhandlungen noch verhindern konnten, könnte in Wien bald Realität werden (vgl. Standpunkt von Charles E. Ritterband). Der Angriff auf die liberale Demokratie und ihre Werte schreitet in rasantem Tempo voran. Wissenschaft, öffentlich-rechtliche und generell qualitativ hochwertige Medien sowie die Kultur- und Bildungssysteme stehen unter Druck rechter Parteien.

Die Meinungsfreiheit wird radikalisiert, während Regulative zum Schutz von Minderheiten, zur Vermeidung von Verschwörungstheorien, Rassismus und Antisemitismus abgeschafft werden. Zugleich machen Tech-Konzerne weitere Zugeständnisse und ebnen den Weg für die Lügenkaskaden Donald Trumps. Fakten werden relativiert, und die Grenzen einer uneingeschränkten Meinungsfreiheit aufgehoben.

Eine selbstzerstörerische Walze rollt auf die Menschheit zu und bedroht den Kanon von Wissen, Kultur und Verbindlichkeit. Mit der Rückkehr Donald Trumps ins Amt des US-Präsidenten öffnen sich weitere Schleusen, die es rechts- und teils linksextremen Parteien ermöglichen, die universellen Werte der Gegenwart zu dekonstruieren.

Doch stellt sich die Frage: Will die Mehrheit der Menschen das wirklich? Oder ist dies das Ergebnis von Manipulation, Lügen und Verschwörung? Diese Fragen werden in den kommenden Monaten, einer Zeit wichtiger Weichenstellungen, diskutiert werden müssen – ebenso wie die Entscheidung, ob eine Konsensgemeinschaft oder die absolute individuelle Freiheit ohne Solidarität angestrebt werden soll.

Im Palermo der Gegenwart jedoch prallen diese Debatten an einer Gesellschaft ab, die eine interessante Dialektik zwischen Weltoffenheit und starker lokaler Identität gefunden hat. Hier werden Einzelne von einer Gemeinschaft aufgefangen, deren Grundlage eine über Jahrhunderte gelebte Kultur von Gastfreundschaft und Geschlossenheit ist ohne das Fremde zu stigmatisieren. Während in Europa Nationen aktuell abgeschottete Inseln werden wollen, zeigt die Insel Sizilien ein anderes Verständnis von Offenheit für Kulturen, von Grenzen, von Umgang mit Ankommenden. Eines, das früher europäisch konotiert war und je länger desto mehr eine historisch gewachsene Eigenheit der süditalienischen Gesellschaft geworden ist.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann