Frankfurt, September 2025. Der grösste Eisberg der Welt, A23a, zerfällt nach fast 40 Jahren im Atlantik. Seine Fläche ist in kurzer Zeit auf weniger als die Hälfte geschrumpft, melden Wissenschaftler. Warme Meeresströmungen und Klimawandel beschleunigen seinen Zerfall. Die einen reagieren mit nostalgischer Wehmut, da einst gegebene Realitäten wegbrechen. Die anderen sehen es als erneuten Warnruf dramatischer Folgen der Erderwärmung mit unabsehbaren Konsequenzen und wiederum andere sehen das als Teil natürlicher Entwicklungen, die nicht der Kreatur Mensch zugeschrieben werden sollen.
Am Bahnhof strömen zwei Schulklassen in einen Kiosk. Die energiegeladenen Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 16 aus dem gegenüberliegenden Schulhaus haben Pause und decken sich mit Shakes und Essen für die baldige Mittagspause ein. Eine lustige, aktive Truppe mit viel Jugendslang, teils hörbar aus migrantischen Familien. Sie reihen sich an den Computerkassen ein, lassen ältere Menschen vor oder helfen ihnen.
In den Zeitungsauslagen die Schlagzeilen über die Problemjugend: «Jugendliche prügeln sich auf offener Strasse», «Hassverbrechen in Berliner Spielhalle», «Jugendlicher sucht Hilfe wegen Familienkonflikt». Zwei Mädchen diskutieren beim Anstehen über den Gaza-Krieg. Eine Klassenkollegin hat Familie in Gaza. Sie ist in Sorge um die flüchtende Familie. «Was können wir tun?», fragt die eine. Aus dem Radio verliest die Sprecherin die Meldung über die nächtlichen Proteste der Geiselfamilien vor dem Haus des israelischen Premierministers.
Die internationalen Zeitungen berichten auf der Front über Chinas Militärparade in Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 80 Jahren. «Der Krieg wird in den nächsten Tagen schlimmer werden», sagt ein Junge in der Warteschlange, in der alle geduldig warten und sprechen.
Dass dieser Krieg die jüdische Gemeinschaft weit über die Massaker des 7. Oktober 2023 hinaus noch Jahre massiv beschäftigen und verändern wird, wird immer klarer – angesichts der neuen Meldungen über traumatisierte, rückkehrende israelische Soldaten und Reservisten, die den Dienst verweigern wollen, Geiselfamilien, die vor der eigenen Regierung warnen und Debatten für und wider den Krieg, die die jüdische Gemeinschaft längst tief gespalten haben.
Ist Schweigen die Lösung? Nicht sprechen? Empörung, Negation, Ohnmacht, Zynismus, Instrumentalisierung überall. Doch verschwinden wird die kaum geführte Debatte nicht. Da braut sich etwas zusammen, von dem so viele wissen. Doch zuerst verschwindet einmal dieser Eisberg im Atlantik. Morgen mehr.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
05. Sep 2025
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Yves Kugelmann