Das Jüdische Logbuch 09. Aug 2019

Die letzte Ruhe ohne Grab

Jerusalem, Juli 2019. Avner Shalev sitzt ruhig in seinem Sessel. Es ist ein Gespräch über Erinnerungskultur, Aufklärungs- und Bildungsarbeit in Schulen zum Thema Schoah ausserhalb der sogenannten westlichen Welt. Er hört zu, analysiert rasch und sucht nach Wegen für Programme. Shalev leitet die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem seit 1993. Er hat sie zu einer unabhängigen eigenständigen Institution etabliert. Unabhängig auch von der Politik, wenngleich der Gedenkstätte gerade in den letzten Monaten vorgeworfen wird, dass antidemokratische und teils antisemitische Politiker kritiklos empfangen oder sogar hofiert werden. Shalev diente als Brigadegeneral und Offizier in der israelischen Armee in vier Kriegen.

Es ist Ende Juli. Es sind vor allem IDF-Einheiten, die an diesem Vormittag die Gedenkstätte besuchen. Meist in Verbindung mit dem Soldatenfriedhof in unmittelbarer Nähe. Shalev hat sich von der Politik und Politikern freigehalten. Und doch wusste er stets pragmatisch damit umzugehen und trotzdem die Unabhängigkeit zu wahren. Wer für diese in Zukunft stehen wird, bleibt ungewiss. Im Herbst wird Avner Shalev als Vorsitzender von Yad Vashem abtreten. Seine Nachfolgerin und oder sein Nachfolger wird durch die neue Regierung beziehungsweise den neuen Erziehungsminister im Nachgang zu den vorgezogenen Neuwahlen von September bestimmt werden. Die Befürchtung ist gross, dass Yad Vashem zum Politikum wird oder gemacht werden könnte, wie bereits in den letzten Jahren unter dem im Frühjahr abgewählten Erziehungsminister Naftali Bennett zunehmend politischen Einfluss auf Schulbücher und Unterricht genommen wurde. Die Schoah würde nicht zum ersten Mal instrumentalisiert, wie schon früh die unter anderem die israelische Professorin Idith Zertal in mehreren Büchern und unter anderem «Israel's Holocaust and the Politics of Nationhood» aufzeigte.

Die Sonne steht Senkrecht. Es ist Mittagszeit. Ein leichter warmer Wind rauscht durch die Bäume. Es ist eine unwirkliche Welt. Im Schatten sitzen Menschen, sprechen kaum. In diesen Tagen der drei Trauerwochen zwischen den Fasttagen 17. Tammus und 9. Aw (der am kommenden Sonntag begangen wird, siehe Standpunkt S. 5) besuchen viele Familien Yad Vashem, die der ermordeten Verwandten im Holocaust gedenken. Yad Vashem ist für viele eine Art Familienheimat des Gedenkens an Menschen geworden, die in Europa kein Grab, keinen Grabstein bekommen und nie die letzte Ruhe gefunden haben.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann