das jüdische logbuch 10. Mai 2024

Die herausgeforderte Debatte

Basel, Mai 2024. Was darf, kann, soll wer, wann, wo, wie sagen? Der öffentliche Raum ist in den letzten Jahren zusehends herausgefordert. Politische Korrektheit, Sprachkonventionen oder etwa Inklusion haben Auswirkungen auf Form und Inhalt öffentlicher Debatten und führen gleichsam immer wieder zur Frage, wo Grenzen in öffentlichen Wortmeldungen überschritten werden. Grenzverläufe werden permanent verhandelt in einer Art Selbstregulierung in den jeweiligen Gesellschaften. Denn nicht alles, was gesagt werden darf, ist immer akkurat. Nicht alles, was nicht artikuliert werden darf, sollte der Öffentlichkeit entzogen werden. Diese tagtägliche Justierung ist integraler Bestandteil der öffentlichen Debatten und führt immer wieder zu harten Diskussionen, gesellschaftlicher Ächtung oder Anerkennung von Votantinnen und Votanten. Mit den Hamas-Massakern des 7. Oktober und dem neu eskalierten Nahostkonflikt hat sich die Frage nach Grenzverläufen in aktuellen Debatten wieder neu gestellt. Was darf, kann, soll wer, wann, wo, wie sagen? Was ist Kritik, was Stigmatisierung, was Ausgrenzung, was legitim und so fort? Die öffentliche Debatte fordert jüdische und israelische Gemeinschaften heraus – Antisemitismus, Antizionismus oder schlicht scharfe, wahre und falsche Kritik verändern Lebenswirklichkeiten. Die einen fühlen sich in die 1930er Jahre zurückversetzt, andere ordnen die Kritik in der Gegenwart als antijüdisch motiviert ein, und es gibt solche, die weder dem einen noch dem anderen zustimmen. Der öffentliche Raum der Freiheit ist toxisch geworden. Viele ziehen sich zurück und überlassen das Feld den Extremisten aller Couleur. Dies zeigt auch die Okkupation von Universitätsgebäude oder Campus durch Aktivisten und die Diskussion darüber. Was, wer, wann, wo, wie sagen kann, soll oder darf, ist nicht objektivierbar und allgemeingültig beantwortbar. Es prallen allerdings jene aufeinander, die – wie etwa Campus-Aktivisten – die freie Äusserung von Meinung und Rede vollends ausloten oder gar erweitern wollen, und andere, die all dies eindämmen wollen. Auf allen Seiten wird mit redlichen und unredlichen Mitteln das eigene Anliegen in die Waagschale geworfen – und nochmals andere haben Furcht zu partizipieren. Die Grenzen in allen Dingen sind fliessend. Doch die permanente, oft pauschale Stigmatisierung von Israeli, Juden im konkreten Fall, zugleich jene der Muslime oder Palästinenser, schwappt immer irgendwann über in Handlung, verbale und dann physische Gewalt über. Selbst dort, wo dies nicht geschieht, ist die Angst davor gut begründet. Und jetzt? Studentenproteste, Manifestationen von Aktivisten überfordern weltweit Politik, Behörden und Institutionen. Wann sind Verbote richtig, voreilig, freiheitsberaubend und so fort? Die Diskussion ist bekannt und Betroffene urteilen oft anders als Zuschauerinnen und Zuschauer. Offensichtlich wird, dass richtige und falsche Prävention die Konfrontationen nicht verhindert oder den Diskurs auf ein höheres Niveau gestellt haben. Doch es ist ein Irrsinn zu glauben, dass die Anliegen von Aktivisten oder jenen, die widersprechen, aus der Welt geschafft werden können, wenn der öffentlich Diskurs, harte, oft schmerzhafte Debatten sanktioniert oder verhindert werden. Die grösstmögliche Offenheit für politische Manifestation soll im europäischen Verständnis von Rede- und Meinungsfreiheit möglich sein, während gerade die USA viel Europas Konsensdiskurs wider das radikale Prinzip von Freedom of Speech lernen könnten. Für die Schweiz und die aktuelle Debatte um Aktivismus an Universitäten hat ein neuer Lernprozess begonnen. Die Strassenproteste haben sich auf die Universitäten ausgeweitet. Der Umgang damit wird zum Lernprozess, der wichtig bleibt. Wer diesen nicht zulässt, hat sich schon radikalisiert. Eindeutige Entscheidungen von Universitätsleitungen sollen nicht herausgepresst, sondern Resultat einer inneren Erkenntnis sein der Freiheitsprinzipien würdigt. Im Idealfall lautet die Formel, dass die Schnittmenge zwischen Freiheit und somit auch Freiheit für Jüdinnen und Juden als integraler und nicht stigmatisierter Bestandteil einer Gesellschaft grösser werden muss als bisher. So, wie für alle.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann