das jüdische logbuch 08. Mai 2020

Die doppelte Befreiung

Frankfurt, Mai 2020. So war es nicht geplant. Die Pandemie wird gerade in Europa zum Stresstest für Demokratie, Rechtsstaat und die Idee Europa. Wenn Regierungen mit Notrecht regieren, wie steht es in Demokratien um Schutz von Menschen auf Basis von verbrieften Menschenrechten, Gleichberechtigung, Rechtssicherheit oder Freiheitsrechten? Es hat mehr als Symbolcharakter, dass die Bewährung der europäischen Idee auf den 75. Jahrestag der Befreiung Europas vom totalitären NS-Regime fällt und die Bilder von 1945 mit den Bildern von 2020 geradezu verdrängt werden. Zwei Neuanfänge unter ganz anderen Vorzeichen, mit anderen Erfahrungen und anderen Kausalitäten. Nach dem Genozid in Europa haben Menschen Verfassungen und Demokratien auf den blutgetränkten Trümmern Europas neu konstituiert, die Abkehr vom nationalistischen zum Binnen-Europa eingeleitet. Doch anstatt dass die Pandemie Regierungen und Menschen in Europa die Erfahrung der Gründungsmütter und -väter Europas und das Verständnis für den Kontext europäischer Verfassungen näher bringt, verwischt sie diese eher. 75 Jahre nach Kriegsende ist diese Fahrt durch Deutschland und eigentlich Europa eine seltsame. Grenzkontrollen, Abschottung, die Ent-Gesellschaftlichung. Alles mit guten Gründen vielleicht. Doch langsam beginnt die Aufarbeitung der letzten Wochen und die Debatten werden schärfer. Welchen mittel- und langfristigen Schaden werden die Menschen, die Gesellschaften, Europa schlechthin durch die Pandemie-Groundings davontragen? Den wirtschaftlichen Schaden werden die Regierungen und Nationalbanken in den Griff bekommen. Die individuellen Schicksale vermutlich nicht: Die Opfer von Insolvenzen, von Isolation, von Aus- und Abgrenzung. Viele Menschen in sozialen Schichten, die ohne Vorsorge oder Privilegien durch diese Zeit müssen. All jene, die keine Lobbys haben. Sie sind oft der ungehörte Teil dieser Demokratien. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 prallte ungebremst auf Menschen. Es gab kaum Schutzschirme, Regierungsprogramme, schon gar keine internationalen Institutionen, Rettungsmöglichkeiten. Das wird 2020 anders sein und Angst vor Krieg und Terror mag verständlich, aber unbegründet sein. Doch die Tatsache, das Demokratien sich bisher in prosperierenden Jahren mehr bewähren als in der Krise zeigt, dass sie zu sehr von der Wirtschaft anstatt von der Gesellschaft abhängen. Sosehr beide sich bedingen, wird sich hier die Reihenfolge ändern und um den Faktor Ökologie erweitert werden. Denn die nächste Krise hat schon längst angeklopft und wartet draussen vor der Tür, während sie einen Fuss längst darin hat. Die jüdische Erfahrung in dieses Europa einzubringen kann sich allerdings nicht auf die Erinnerungsarbeit an die Schoah beschränken. Die jüdische Erfahrung einzubringen heisst, sie als paneuropäische Erfahrung für eine neue Zukunft zu formulieren. Und zwar jetzt und schnell. Denn die Gefahr ist greifbar, dass durch Notrechte nach der Pandemie Fakten geschaffen werden, die Europa Jahre zurückwerfen. Wie 1945 sollten 2020 nicht Technokraten, Bürokraten, Funktionäre, sondern die brillanten jungen und alten Köpfe der Gesellschaft die europäische Vision in eine neue Realität der Zukunft übersetzen. Dann wird der 8. Mai zur doppelten Befreiung und nicht das Ende eines der wichtigsten Projekte in der Menschheitsgeschichte - der Verbriefung von Freiheit für Menschen.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM JüdischenMedien AG.

Yves Kugelmann