das jüdische logbuch 26. Mai 2023

Diaspora als Widerstand

Cannes, Mai 2023. Das Filmfestival von Cannes ist eine Art Parallelwelt ohne Parallelgesellschaft. Hochpolitisch abseits von roten Teppichen und der Scheingesellschaft lancieren engagierte Filme wichtige Debatten oder begleiten sie. Beachtet, unbeachtet, wichtig, unwichtig – die Aufmerksamkeitslogik ist keine exakte Wissenschaft, aber immer ist die Plattform da, an der Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt partizipieren können. An diesem Nachmittag geben iranische Filmschaffende auf einem Podium an der Croisette Einblicke in ihren Alltag, in ein Schaffen, das in ihrem Heimatland selbst kaum möglich ist und den Austausch mit dem Ausland benötigt. Die Schauspielerin und Produzentin Zar Amir Ebrahimi nennt ihre Filme «Diasporafilme». Es sind spannende, bedrückende Ausführungen. Hinter dem Panel der Blick aufs weite Meer, die Yachten der Reichen – in diesem Jahr keine der russischen Oligarchen. Die Künstlerinnen und Künstler erzählen sehr geduldig. Fast emotionslos. Alle wissen, das hier nicht nur geredet, sondern auch mit Leben gerungen wird. Die Menschen auf dem Panel haben Freunde, die von Irans Sicherheitsdiensten verschleppt worden sind, die Familien sind gefährdet. Hier geht’s nicht nur um Kunst. Hier wird Zeugnis abgelegt. Am Ende des Panels erheben sich die Teilnehmenden, heben ein Plakat in die Kameras und beginnen mit einer Gedenkminute für die drei am Tag zuvor in Teheran hingerichteten Gefangenen. Das Regime geht immer härter gegen Filmemacherinnen und Filmemacher vor. Regierungskritische Filmschaffende werden eingesperrt, erhalten Ausreiseverbote und so fort. Dennoch ist der iranische Film an den letzten Festivals von Venedig, Berlin und jetzt in Cannes auf dem Vormarsch. Längst schaut die Welt weg, hat die mutigen Frauenproteste auf Irans Strassen aus den Augen verloren. Genauso wie andere Konflikte. Abseits der grossen Hollywoodproduktionen mit ihrem Staraufgebot erinnern in Cannes Filmschaffende an das, was nach wenigen Tagen wieder aus den Schlagzeilen verschwindet, wie etwa der in diesen Tagen publizierte Report über moderne Sklaverei. 50 Millionen Menschen leben dem Global Slavery Index zufolge in moderner Sklaverei. Das sind zehn Millionen mehr als fünf Jahre zuvor. Das hat unmittelbar mit Industrienationen und gerade den Wohlstandsländern zu tun. Der Begriff Diasporafilm hängt nach. Für Jüdinnen und Juden ist der Begriff zentral geworden – doch die Zerstreuung, die Vertreibung, die Flucht aus der Heimat ist längst kein Minderheitenproblem mehr, sondern betrifft einen Grossteil der Menschheit. Filme bilden neue oder Ersatzräume. Räume, die sich der Kontrolle von Regimen entziehen und einen offenen Raum für alle Menschen, auch Identifikationsräume, bilden. Räume, die geschaffen werden müssen nicht nur durch die Filme selbst, sondern gerade durch Festivals, in denen sie und die Fimschaffenden Plattformen erhalten. In diesen Tagen auch in der Schweiz mit dem Filmfestival «Yesh!» (vgl. Seite 14), das wiederum wichtige jüdische und israelische Filme zu Themen zeigt, die oft innerhalb der jüdischen Gemeinschaften tabuisiert werden und am Festival verhandelt werden können. Diese Räume der Freiheit sind wieder wichtiger geworden als Echo der Gegenwart. Denn schon ist vergessen, das auch Israels amtierende rechtsextreme Regierung seit Januar neue Gesetze gegen die Freiheit von Kunst schaffen und Filmschaffen einschränken oder kontrollieren wollte. Auch dies ein Thema in Cannes. Israeli allerdings würden ihre Filme heute nicht mehr Diasporafilme nennen, im Gegenteil. Damit das so bleibt, muss der Widerstand stärker bleiben als der lange Atem der Faschisten – irgendwo.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann