das jüdische logbuch 29. Nov 2024

Der nicht jüdische Staat?

Frankfurt am Main, November 2024. Israel verändert Judentum. Verändert Judentum auch Israel? In der Lobby des Frankfurt Hotels sitzt eine Gruppe Israeli. Sie nehmen an einer Tagung Teil, diskutieren den Umgang mit dem Konflikt, Fragen der Aufklärung und so fort. Der Innenblick verhandelt weit weg vom Krisengebiet am Tage der neuen Waffenruhe, wenige Tage nach dem Rabbinermord von Abu Dhabi und dem internationalen Haftbefehl gegen Israels Premierminister Binyamin Netanyahu und den ehemaligen Verteidigungsminister. In diesen Monaten der Nahostkriege wandeln sich Diskurse fundamental. Vor allem auch die innerjüdischen und innerisraelischen, die unter dem Druck der weltweiten Kritik an Israel zu oft in den Hintergrund gerückt sind. Denn was Israel ist und sein wird, was das Verhältnis zwischen den jüdischen Gemeinschaften und Israel sein kann, wenn sich die Werteskalen angesichts der unterschiedlichen Realitäten auseinander leben, kann weder verdrängt noch den Debatten über Antisemitismus untergeordnet werden. Demokratie, Freiheitsrechte für Minderheiten, Menschenrechte und Aufklärung gegen Menschenfeindlichkeit waren lange Kernanliegen der Zentrumsjuden, Einheitsgemeinden, vieler jüdischer Organisationen. Immer grösser wurde der Spagat für jene, die in der Diaspora einforderten, was Israel teils nicht mehr erfüllen wollte. Israel, das oft zu Unrecht mit gleichen Masstäben beurteilt wurde wie Länder in Europa, Israel, das oft zu Recht mit gleichen Masstäben beurteilt wurde wie Länder in Europa. In diesen Tagen des Konflikts und von Netanyahus radikalem Kampf gegen Gewaltenteilung, Justiz, freie Medien muss das demokratische Selbstverständnis Israels offen und nicht nur hinter vorgehaltener Hand diskutiert werden. Israels Demokratie zerfällt vor aller Augen im Fahrtwind der Reaktionen des 7. Oktober – mit dem all dies aber nichts zu tun hat. Das Verhältnis von Israel und jüdischen Gemeinschaften war immer ein asymmetrisches, das nicht Augenhöhe, sondern das schlechtes Gewissen zum Agitationsmoment machte. Wenn jüdische Menschen in Sorge um Kriegshandlungen in Gaza Angst haben, das in jüdischen Gemeinschaften zu äussern, wenn zu oft mit langfädigen Disclaimern gesprochen und zuerst die Selbstverteidigung angeführt werden muss, wenn das ethische Moment der jüdischen Tradition im Umgang mit Feinden und Fremden nicht mehr konfessionslos angeführt werden kann, dann führt das zur inneren Selbstaufgabe, die auch durch äusseren Nationalismus, Zionismus oder falsches Selbstbewusstsein aufrechterhalten werden kann. Diese Selbstaushöhlung ist brisant und müsste verhandelt werden, bevor sie zur neuen Normalität avanciert. In Frankfurt ringen die Menschen um Positionen, während weltweit in der jüdischen Gemeinschaft der Umgang mit dem 7. Oktober und die nachfolgenden Kriege spalten. Der «jüdische Staat» ist keine Floskel, sondern eine Verpflichtung auf die Referenz, die er selbst anruft, wenn er sich Demokratie nennt: die jüdische Ethik der Moderne. Hunderte Pioniere Israels, darunter so grosse jüdische Denkerinnen und Denker wie Nechama Leibowitz, Abraham Kook, Jehuda Amital, Chaim Schapiroh, Samuel Agnon und so fort, haben vorgelegt. Zeit, sich damit auseinanderzusetzen: Jetzt erst recht!

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann