das jüdische logbuch 17. Nov 2023

Der Krieg um den Krieg

Berlin, November 2023. Die Kuppel der Synagoge an der Oranienburgerstrasse leuchtet in dieser eiskalten Herbstnacht in den dunkelblauen Himmel. Das sonst schon gut bewachte Kulturzentrum ist nun doppelt bewacht. Zusätzliche Absperrungen, zusätzliches Wachpersonal, zusätzliche Wachkabinen. Die Ausschreitungen bei Pro-Palästina-Demonstrationen zeigen ihre Wirkung, deutschlandweit werden ein paar Tage später Razzien in muslimischen Institutionen durchgeführt wie nach den Attentaten des 9/11. Wie in vielen Ländern weltweit sind die Sicherheitsvorkehrungen jüdischer Institutionen in diesen Tagen erhöht worden. Im Netz ist ein Monstrum von Antisemitismus, Israelhass, Rassismus, Islamophobie, konspirativer Propaganda herangezüchtet worden, das global eine Generation infiltriert, die den Nahostkonflikt, Juden, Muslime gerade neu entdeckt. Antisemitismus-, Rassismus-, Extremismus-Experten zeigen sich an der Methodik ihrer Expertisen und Voraussagen gescheitert und viele Programme, Aussagen und Studien zeigen sich als substanzlose Albernheit im Angesicht neuer Realitäten. Doch sind sie so neu, ist alles so anders oder gaukelten die Gaukler und tun jetzt so, als ob alles anders sei, und gaukeln neu weiter?

Die Angriffe, Massaker und Geiselnahmen der Hamas und Israels Reaktion in Gaza seit dem 7. Oktober haben die Ventile geöffnet. Doch der Antisemitismus wurden dann weder erfunden noch verstärkt. Er war immer da. Jetzt manifestiert, artikuliert, präsentiert er sich als real existierend mit tiefgreifenden Ursachen, als Trigger oder als Provokation. Viel davon ist Antisemitismus, viel davon Dummheit, was unterschiedliche Reaktionen einfordert. Eine Berliner Galerie sagte eine Ausstellung mit Fotos zu «muslimischem Leben» mit der Begründung ab, dass angesichts der aktuellen Situation in Nahost die «jüdische Perspektive» zähle. Das Jüdische wird zum Fetisch einer Gesellschaft, die in diesen Tagen ihr anormales Verhältnis zu «Anderen», Fremden», «Jüdischem» zu Lasten anderer im Fahrtwind eines schrecklichen Krieges bereinigen möchte. Da hauen die einen mit Juden auf die Muslime, die anderen mit Israeli auf die Juden oder etablieren eine okkupative Debatte, bei der es vor allem um eines geht: die «anderen» wiederum zu dominieren.

Ein ideologischer Krieg um linken, rechten, muslimischen, woken anstatt um Antisemitismus an sich ist ausgebrochen. Anstatt mit andern zu sprechen, ziehen sich Menschen in die je eigenen Communities zurück, von allen Seiten werden Positionierungen eingefordert und ein Populismus etabliert, der effektiv aber nicht nachhaltig ist. Funktionäre etablieren einen Pseudoaktivismus aus dem Moment heraus, basierend auf dem gros-sen Nichts, positionieren sich als Experten ohne Expertise und treiben die Politik vor sich her, und alles mündet im grossen Absurdum. Währenddessen fliegen weiter Raketen auf Israel, keine Geisel ist befreit, die Zivilbevölkerung in Israel, Gaza und der Westbank kommt immer mehr unter Druck durch die reale Situation und die Debatten weltweit. Der Krieg um den Krieg ist der grosse Event, an dem sich Milliarden Menschen abarbeiten und eine Dynamik mitbegründen, die gefährlich werden kann und immer wieder wird. Der Krieg um den Krieg war schon immer die dritte Front im Nahostkonflikt mit verheerender Wirkung.

Der Krieg um den Krieg ist zu oft eine grosse, elitäre Anmassung der Zuschauer – selbst wenn sie sich mit bester Motivation einbringen. Doch werden sie wieder abziehen und die Akteure, Betroffenen, Opfer alleine lassen mit dem Konflikt und dem mitgerichteten Schaden.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann