das jüdische logbuch 10. Jul 2020

Demokratie-Check Corona

Genua, Juli 2020. Am Hafen ist viel Betrieb und wenig los. Die Menschen laufen fast schon ziellos in einer Art Lethargie des Nichtstuns umher. Viele mit Masken. Schiffe kommen kaum. Die Kräne stehen ruhig, die Anlegestellen für Kreuzfahrtschiffe sind leer. In Gruppen wird diskutiert. Wenige Cafés sind geöffnet – die heruntergelassenen Eisenläden zeugen vom wirtschaftlichen Einbruch und einem anderen Strassenbild als in Deutschland, der Schweiz oder Frankreich. «Wer jetzt nicht öffnet, wird es nie mehr tun.» Auf den Strassen liegen Menschen mit ihrem Hab und Gut. Meist Männer und immer wieder Frauen mit Kinder. Bettlerinnen und Bettler säumen die Strassen und irgendwie erinnert sie Szenerie an Reportagen von Elias Canetti aus der vermeintlichen Fremde jedoch vergangener Tage. Doch es ist keine Fremde. Es ist Europa im Jahr 2020. Italien hat in Europa den drastischsten Lockdown verfügt, Menschen vom Erwerb entkoppelt und kaum Hilfsprogramme aufgestellt. Ob bei diesen Menschen Mittel aus Rettungsschirmen und Hilfsprogrammen jemals ankommen werden? Corona wirft nochmals einen neuen Keil zwischen die Gesellschaften und wird zum Gradmesser für Demokratien. In der sogenannten westlichen Welt leiden Staaten wie die USA, England, Israel unter Demokratiezerfall durch populistische Regierungen. Corona entlarvt in dieser Woche mit immensen Ansteckungszahlen noch vermehrt die Lügen, Manipulationen, Versäumnisse von Politikern und zeigt auf, in welchen Ländern es Exekutivpolitikern um das Wohl von Menschen geht – oder eben nicht. Die Chance ist gross, dass Corona die Amtszeit vieler Populisten überlebt beziehungsweise diese verkürzt. Die Zukunft von Donald Trump, Boris Johnson, Binyamin Netanyahu hängt mittlerweile von der Entwicklung der Pandemie ab. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat am Mittwoch zum Start der EU-Ratspräsidentschaft in einem Plädoyer für Rechtsstaatlichkeit noch mal klar justiert, in welcher längst vertraglich verbindlich geregelten Selbstverpflichtung demokratische Staaten stehen – und stellt sich damit gegen Trumps eskalierendes Kumpanenspiel, unter dem mittlerweile Menschen weit über die USA hinaus leiden. So auch in Italien, wo das Intermezzo der Salvini-Regierung und der Vorgänger noch nachwirkt und das Europa vor während der Pandemie vor Augen führte, wohin die Aushölung von Systemen führen kann. Ausserhalb von Genua werden die Strassen leer. Das Mittelmeer glitzert den Strassen entlang und hat längst vergessen lassen, dass Italien mit Griechenland und der Türkei in den letzten Jahren mit der Flüchtlingssituation konfrontiert war. Am italienischen Grenzort Ventimiglia indessen ist diese Realität wieder zu sehen. Menschen aus Syrien oder Afrika, geflüchtet vor Krieg, Armut mit der Hoffnung auf Hilfe in Europa. Doch dieses Europa, das immer noch helfen könnte, will es noch weniger. Corona ist zum Lackmustest für die einst in besseren Zeiten verkündeten hehren Werte geworden. Wenn sie in die Tat umgesetzt sind, werden sie Menschen und Europa helfen. Einem Europa, das bei der Konfrontation mit dem Ungemach nicht nur der Pandemie, sondern jener mit Despoten, Antidemokraten und Korruption, in seine entscheidende Phase geht.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann