Hamburg, Oktober 2024. Vor dem Danach sind die Blicke auf die goldenen gefallenen Blätter an der Alster trügerisch. Die laue Luft, die Farbenpracht, der Herbstfrühling trägt das Ende vom Anfang immer mit sich und vor den entscheidenden US-Wahlen vielleicht den Anfang vom Ende für so vieles, was in den letzten 80 Jahren seit dem Krieg an liberalen Demokratien, Menschenrechten und zivilisatorische Errungenschaft aufgebaut wurde. Rund um die Sukka spielen die Kinder, während aus dem inneren der Synagoge in Eimsbüttel das Hallel-Gebet erklingt. Die meisten Menschen sprechen russisch. Hamburg ist eine junge Gemeinde geworden durch die Migration aus Russland und der Ukraine. «Meine Grossmutter hat Hitler und Stalin überlebt» sagt ein etwa 40-jähriger Ukrainer zu seinem russischen Nachbarn. Sie lebt in einer kleinen Stadt im Osten der Ukraine. «Sie wird auch Putin überleben.» Die Szenerie ist wie eine aus alten Tagen mit Menschen, die sehr fein gekleidet sind, nicht über Wirtschaft, Börse, Herumreisen, sondern Migration, die Akademie, Berufschancen und Kultur sprechen. Keine verklärte Nostalgie, sondern eine Lebenswirklichkeit von Menschen, die die Weltgeschichte nach Deutschland getrieben hat, die die jüdische Gemeinschaft des Landes stärken, neu prägen und andere Facetten des Judentums einbringen. Der Cohen, der an diesem Morgen als erster zum Thorasegen aufgerufen wurde, ist der Sohn von Bucharen, aufgewachsen in Indien, lebt heute in Südafrika und Thailand, arbeitet in der Edelsteinbranche. Er ist in Hamburg auf Durchreise und zum Jiskor-Gebet für seine Familie in die Synagoge gekommen. Es folgt der letzte Kiddusch in der Sukka. Es liegt eine Stimmung von Abschied über allem in diesem Herbstlaub – von Sukkot, von diesem Herbst, als ob alle auf einen Neuanfang warteten. Schabbat Bereschit, die Wahlen, die Ungewissheiten und vor Augen, was alles nicht getan wurde in den letzten Jahren, um die Kumulationen der Bedrohungen durch Computermaschinen, Klimawandel, Degenerierung liberaler Gesellschaften und Populismus abzuwenden. Der goldene Herbst leuchtet an diesem Nachmittag in die Zukunft und das Kaddisch der fünf jungen Männer klingt wie eines an die kommenden Tage.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
01. Nov 2024
Das goldene Kaddisch auf die Zukunft
Yves Kugelmann