Berlin, Januar 2023. Die beissende Kälte am Vorabend des internationalen Holocaust-Tags unterstreicht allenfalls die Absurdität einer Gegenwart zwischen Gedenken an die industrielle Massenvernichtung von Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen oder etwa behinderten Menschen, während in Osteuropa täglich neue Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden und das westliche Europa mit vielen Dilemmafragen konfrontiert ist: Waffen liefern zur Selbstverteidigung der Ukraine ohne Kriegspartei zu werden – und weshalb eigentlich nicht? Wie reagieren, auf einen despotischen Putin? Nie wieder – aber wie? Kriege werden gewonnen, wenn sie verhindert werden. Oder doch nur mit Waffen. Die Absurdität der Gegenwart zeigt einmal mehr, dass die Kompetenz im Führen von Kriegen höher ist als im Herstellen von Frieden. Seit Monaten entfaltet sich Europas in Bevölkerungen ein Jargon von Kriegs- und Waffensprache, der auf einen Fundus zurückgreift, der sich bestens mit Kriegswirklichkeiten arrangiert hat und in dem die Gegensprache keinen Platz mehr hat. Es gibt sie nicht. Die Kriegssprache dominiert an diesem Tag auch das Gedenken. Feine Worte der Mahnung, der Erinnerung, werden überrollt von Waffendebatten und apokalyptischen Mahnungen. Doch was haben alle diese Gedenktage gebracht, die Manifestationen der Alliierten noch vor einigen Jahren mit den Russen? Die grossen Gedenkzeremonien des Jüdischen Weltkongresses mit Putin in Auschwitz oder jene des Europäischen Jüdischen Kongresses in Yad Vashem vor der Pandemie, als jüdische, israelische Offizielle Putin hofierten? Kriegssprache statt Handlungsmaximen, Forderungen der Ohnmacht statt Konfliktlösung und letztlich die schlichte Erkenntnis, dass Europa ohne das frühe Handeln der USA in diesem Kriegsinflationsenergiekrisenwinter in einer viel bedrohlicheren Situation wäre. An der Oranienburger Strasse leuchtet sie wieder die goldene Kuppel der zerstörten Synagoge. Strahlend. Fast – als ob nichts gewesen wäre. Die kalte Brise ist an diesem Tag wirklicher als alles andere, und oft beliebige, Worte. Diese Ohnmacht hätte nicht sein müssen. Das wissen vor allem die vielen, die so viel über Krieg, Kriegsdiplomatie, Kriegsindustrie und Kriegsspiele wissen.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
03. Feb 2023
Das Gedenkhandlungsparadox
Yves Kugelmann