das jüdische logbuch 01. Dez 2023

Autoemanzipation statt «Gated Community»

Berlin, November 2023. Die Menschen sind nachdenklicher geworden. Auch in den Berliner Cafés an diesem kalten November sprechen die Menschen auf einmal wieder über Demokratie und die Herausforderungen. Die Wahlen in den Niederlanden waren wieder so ein Erweckungserlebnis, ein kleiner Mahnruf. Wandelt sich da gerade die Tektonik von Europas Demokratien, drohen etwa Frankreich, Österreich und so fort ähnliche Szenarien? Was wird im grossen Wahljahr 2024 in der EU, den USA, Taiwan, der Ukraine, Russland geschehen? Wie wirken Konflikte, Kriege in Nahost und der Ukraine auf globale politische und wirtschaftliche Entwicklungen ein? In der Kantine des Berliner Ensemble sitzen Schauspieler und Menschen aus der Kulturszene. Sie verhandeln die Themen und auch die Frage, ob Kulturschaffende rascher, anders, klarer zum Krieg in Nahost, zum artikulierten Antisemitismus hätten Stellung nehmen müssen. Auf Initiative von Pianist Igor Levit und Publizist Michel Friedman hat das Berliner Ensemble an diesem Abend unter dem Titel «Gegen das Schweigen. Gegen Antisemitismus» zu einem Solidaritätskonzert geladen. Zahlreiche Künstlerinnen und Künstlern präsentieren auf der legendären Bühne des Grossen Hauses Musik und Texte, um ein Zeichen zu setzen. Ulrich Noethen, Sven Regener, Katharina Thalbach und weitere Gäste setzten ein Zeichen auch gegen «das Schweigen in der Kulturszene» nach den Massakern der Hamas vom 7. Oktober in Israel, wie der Intendant des Berliner Ensembles Oliver Reese in der Begrüssung sagte. Nicht nur das Selbstverständnis als Gesellschaft sei bedroht, sondern auch die Demokratie, so Reese. Die 2010 nach Deutschland zurückgekehrte Holocaust-Überlebende Margot Friedländer erinnerte daran, dass es «kein christliches, jüdisches oder muslimisches, sondern nur menschliches Blut» gebe. Sie plädierte für mehr Menschlichkeit und zeigte sich geschockt über den aufkeimenden Antisemitismus weltweit. Ihrem Plädoyer folgten Standing Ovations. Höhepunkte des Abends waren Katharina Thalbachs brillante Lesung von Karl Valentins Text «Die Fremden» und Ulrich Noethens beeindruckende Lesung von Michel Friedmans «Fremd». Der Liedermacher Wolf Biermann sorgte mit seinem jiddischen Lied «Mag sein, dass ich irre» für den authentischen emotionalen Ton, sang sein wohl berühmtestes Lied «Die Ermutigung» für die Palästinenser und verband dies mit der Hoffnung, dass die Palästinenser sich aus der Bevormundung von Hamas und arabischen Staaten lösen. Den fulminanten Schlusspunkt des vierstündigen Abends setzten die Toten Hosen mit der Vertonung des Gedichtes «Stimmen aus dem Massengrab» von Erich Kästner. «Da liegen wir und gingen längst in Stücken. / Ihr kommt vorbei und denkt: sie schlafen fest. / Wir aber liegen schlaflos auf dem Rücken, / weil uns die Angst um Euch nicht schlafen lässt.» Und am Schluss: «Vier Jahre Mord, und ein paar Kränze heute. /Verlasst Euch nie auf Gott und seine Leute! / Verdammt, wenn ihr das je vergesst!» Die demokratischen Staaten in der Welt haben viele Aufgaben nicht gemacht. In den Krisen kehren die Versäumnisse wie ein Bumerang zurück. Das gilt natürlich auch für Israel, das nie in solch eine Situation von Gewalt, Abhängigkeit hätte kommen dürfen. Das gilt für viele Gesellschaften, die jetzt ganz rasch Grundsätzliches justieren wollen oder schlicht durch die Situation entlarvt werden als Plagiateure. In der Schweiz sind das Hamas-Verbote, NS-Verbote, Finanzierungsverbote für Terror. Alles Jahre zu spät. Am Ausgang stehen die Sicherheitsbeamten. Judentum, jüdische Themen, jüdische Menschen sind längst eine «Gated Community». Ausgegrenzt, selbst ausgegrenzt, mittendrin zwischen globalen Debatten, Kräften und Ideologien, die Unfreiheit und nicht das Gegenteil bringen. Die Autoemanzipation wird zum Gebot der Stunde, wenn Jüdinnen und Juden sich aus den Fängen jener lösen können, gerade in diesen Tagen, die sie vereinnahmen, als Chiffre missbrauchen oder dominieren. Von Antisemiten, Philosemiten, Opportunisten und Populisten ausserhalb und innerhalb der jüdischen Gemeinschaft.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann