MUSIK 21. Nov 2025

Ein Werk, das aus dem Lager spricht

Die Titelseite von Viktor Ullmanns Oper «Der Kaiser von Atlantis oder Die Tod-Verweigerung», welche er 1943 in dem Lager Theresienstadt schrieb.

Die Musikwissenschaftlerin Heidy Zimmermann hat das Faksimile von Viktor Ullmanns «Der Kaiser von Atlantis» herausgegeben und zeigt eine faszinierende Geschichte hinter der Geschichte.

Die Oper gilt als Jahrhundertwerk, die Hintergründe waren lange wenig bekannt und sind nun neu erforscht: Die Paul Sacher Stiftung in Basel veröffentlicht erstmals eine umfassende Faksimile-Edition von Viktor Ullmanns Oper «Der Kaiser von Atlantis oder Die Tod-Verweigerung» – einem der aussergewöhnlichsten musikalischen Werke aus dem Lager Theresienstadt. Die Edition macht den gesamten Quellenbestand sichtbar: die handschriftliche Partitur und zwei Fassungen des Librettos sowie die vielfältigen Materialien, auf denen im Ghetto komponiert und geschrieben wurde. Verantwortlich für den Nachlass und die jahrelange wissenschaftliche Erschliessung ist Heidy Zimmermann, die seit bald einem Vierteljahrhundert die Ullmann-Bestände der Stiftung betreut.

Die Odyssee eines Manuskripts
Die Geschichte des Werks beginnt mit seiner Rettung. Ullmann wusste, dass seine Komposition bedroht war. Vor seiner Deportation übergab er Partitur und Unterlagen dem Theresienstädter Bibliothekar Emil Utitz, der sie vor den Nationalsozialisten versteckte. Nach dem Krieg gelangte das Material über den Schriftsteller Hans Günther Adler nach London und blieb dort jahrzehntelang. Erst in den 1980er Jahren gelangte es ans Goetheanum in Dornach und kam 2002 von dieser Zwischenstation in die Paul Sacher Stiftung. Zimmermann spricht von einer «spannenden Odyssee», die das Werk hinter sich habe. Die Basler Stiftung bot erstmals die konservatorischen, materiellen und wissenschaftlichen Bedingungen, um den Nachlass dauerhaft zu sichern.

Sichtbares Archiv
Die Arbeit an einem solchen Bestand ist komplex. Zimmermann betont, dass Archivarbeit weit über das reine Ordnen hinausgeht. Alles werde beschrieben, gesichert und digitalisiert, ehe es zugänglich gemacht werden könne. Die Originalhandschrift sei der Öffentlichkeit erst durch diese wissenschaftliche Aufbereitung eröffnet worden. Die neue Edition stelle nun, so Zimmermann, «alle Quellen nebeneinander und transparent» zur Verfügung. Damit werde sicht- und nachvollziehbar, wie Ullmann und sein Librettist Peter Kien im Ghetto arbeiteten – oft auf dünnsten materiellen Grundlagen.

Die Faksimile-Ausgabe zeigt drei zentrale Quellen: Ullmanns handschriftliche Partitur, das handschriftliche Libretto Kiens und ein späteres Typoskript. Die Partitur umfasst 114 Seiten, festgehalten in einem roten Album, geschrieben auf sieben Papierarten – professionelles Notenpapier ebenso wie improvisiert selbst linierte Bögen oder Dienstformulare des Lagers. Zimmermann erläutert, dass ein Libretto auf der Rückseite von Registrierungsformularen der jüdischen Häftlinge geschrieben ist. Die Edition dokumentiert damit nicht nur die künstlerische Arbeit, sondern auch die materiellen Bedingungen und den Alltag des Ghettos.

Theresienstadt war ein Ort intensiver kultureller Tätigkeit unter extremen Bedingungen. Ullmann komponierte seine Oper 1943/44, geprägt von existenzieller Unsicherheit und während ständiger Deportationsgefahr. Die formale Vielfalt des Werks – Arien, Sprechpassagen, musikalische Zitate – verweist auf Ullmanns Modernität. Besonders eindrücklich ist die Entwicklung der Kaiser-Arie, die ursprünglich als provokantes Zitat des Deutschlandlieds begann, später aber umgearbeitet wurde. Die Handlung der Oper – der Tod tritt in den Streik, der Kriegsherrscher verliert seine Macht – liest sich im Lagerkontext wie eine subversive Parabel über Gewalt, Ohnmacht und Würde. Zimmermann nennt den abschliessenden Choral einen Satz «von ungeheurer poetischer Kraft». Er könne, so ihre Interpretation, als Aufforderung zum Durchhalten, zum Festhalten an künstlerischer und menschlicher Integrität gelesen werden.

Proben ohne Premiere
Dass das Werk im Lager tatsächlich geprobt wurde, ist dokumentiert. Ab März 1944 arbeiteten Musikerinnen und Musiker an einer geplanten Uraufführung. Es gab intensive Diskussionen, Korrekturen und Umstellungen. Warum die Aufführung nicht zustande kam, bleibt offen. Wahrscheinlich spielten der Besuch des Internationalen Roten Kreuzes, die von der SS angeordnete «Stadtverschönerung» sowie die dramatische Eskalation der Deportationen im Herbst 1944 eine Rolle. Viktor Ullmann, 1898 geboren, wuchs in einer jüdischen Familie auf, die zum Christentum konvertiert war. Erst die Erfahrung der Verfolgung in Theresienstadt liess bei ihm ein bewusst jüdisches Selbstverständnis entstehen, das sich auch musikalisch niederschlug. Im Lager leitete er ein Studio für Neue Musik und ein Collegium für Alte Musik. Er schrieb über zwei Dutzend Konzertkritiken – heute zentrale Quellen zum kulturellen Leben in Theresienstadt. 1944 wurde er nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Seit der Uraufführung im Jahr 1975 erlebt «Der Kaiser von Atlantis» eine weltweite Rezeption. Heute gilt das Werk als eines der bedeutendsten musikalischen Zeugnisse aus der Shoah. Die neue Faksimile-Edition macht seine Entstehungsgeschichte sichtbar – und zeigt, wie eng Kunst, Überleben, Widerstand und Materialgeschichte miteinander verwoben waren. Zimmermann fasst die Bedeutung des Projekts so zusammen: «Es ist ein Monument, das aus dem Lager zu uns spricht.» 

Viktor Ullmann, «Der Kaiser von Atlantis oder Die Tod-Verweigerung», Bärenreiter Verlag Kassel, 2025.
Das ausführliche Gespräch mit Heidy Zimmerann im Podcast findet sich auf www.tachles.ch/podcast.

Yves Kugelmann